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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Hedda) erwidert – hinter der Bühne, klar und laut, wie es die Regieanweisung verlangt:
    »Ja, das ist doch genau das, was Sie gewünscht haben, Herr Richter?
Sie als einziger Hahn im Korb…«
    Ein Schuss ist hinten zu hören, wie es in
der Regieanweisung heißt.
    Bin ich von diesem Stück an sich begeistert, oder schwärme ich so
dafür, weil Richard Abbott und Miss Frost es für mich mit Leben erfüllt haben?
Grandpa Harry spielte seine, ausnahmsweise kleine, Rolle – die von Jørgens
Tante Juliane, Fräulein Tesman – hervorragend, und meine Tante Muriel war
Eilert Løvborgs bedürftige »Kameradin«, die verheiratete Thea Elvsted.
    »Also wirklich, was für ein Auftritt «,
sagte Richard Abbott zu mir, als wir an jenem warmen Septemberabend auf dem
Gehsteig die River Street entlang zurückschlenderten. Inzwischen war es dunkel,
und in der Ferne grollte ein leiser Donner, doch in den Gärten hinter den
Häusern war es still; man hatte Kinder und Hunde hereingeholt, und Richard
brachte mich nach Hause.
    » Welcher Auftritt?«, fragte ich ihn.
    »Ich meine Miss Frost!«, rief Richard. »Ich spreche von [72]  ihrem Auftritt! Die Bücher, die du lesen sollst, das ganze
Gerede über Schwärmereien und dann ihr kompliziertes
Hin und Her, ob sie Nora oder Hedda spielen sollte –«
    »Heißt das, sie hat die ganze Zeit Theater gespielt?«, fragte ich ihn. (Erneut kam in mir der Beschützerinstinkt für sie
hoch, ohne dass ich den Grund dafür kannte.)
    »Ich nehme an, sie hat dir gefallen«, sagte Richard.
    »Ich war hingerissen von ihr!«, brach es
aus mir heraus.
    »Verständlich«, sagte er nickend.
    »Hast du sie nicht gemocht?«, fragte ich
ihn.
    »Aber ja, und ob – ich mag sie wirklich  –,
und ich glaube, sie wird die perfekte Hedda abgeben«, sagte Richard.
    »Falls sie es macht«, gab ich zu bedenken.
    »Oh, sie wird es tun – klar macht sie’s!«,
erklärte Richard. »Das eben waren doch nur Spielchen.«
    »Spielchen«, wiederholte ich, unsicher, ob Richard Miss Frost
kritisierte. Ich wusste nicht recht, ob Richard Miss Frost gebührend mochte.
    »Hör zu, Bill«, sagte Richard. »Lass die Bibliothekarin deine neue
beste Freundin sein. Wenn dir gefällt, was sie dir zu lesen gegeben hat,
vertrau ihr. Die Bibliothek, das Theater, die Leidenschaft für Romane und die
Bühne – Bill, das könnte die Tür zu deiner Zukunft sein. Als ich in deinem
Alter war, habe ich in einer Bibliothek gewohnt ! Und
heute sind Romane und Theaterstücke mein Leben.«
    Das war alles so überwältigend. Es war ein atemberaubender Gedanke,
dass es Romane über Schwärmereien gab – sogar, vielleicht vor allem, über
Schwärmereien für die Falschen. Außerdem würde die Laienschauspieltruppe
unserer Stadt Ibsens Hedda Gabler mit einem
brandneuen [73]  Hauptdarsteller aufführen, noch dazu mit einem Ausbund an sexueller Stärke (und unbändigen Freiheitsdrangs) in der weiblichen Hauptrolle. Es war nicht nur so, dass meine
gekränkte Mutter einen »Verehrer« hatte, wie Tante Muriel und Nana Victoria
Richard Abbott nannten, sondern meine ungute Schwärmerei für Richard war von
ihm ab und in eine andere Richtung gelenkt worden. Statt Richard liebte ich
jetzt eine Bibliothekarin, die alt genug war, um meine Mutter zu sein.
Ungeachtet meiner scheinbar unnatürlichen Zuneigung zu Richard Abbott verspürte
ich eine neue, unbekannte Leidenschaft für Miss Frost – ganz zu schweigen
davon, dass ich unversehens jede Menge richtige Literatur zu lesen hatte.
    Kein Wunder, dass meine Großmutter, als Richard und ich von unserem
Ausflug in die Bibliothek nach Hause kamen, mir die Stirn fühlte – offenbar war
ich so rot im Gesicht, als hätte ich Fieber. »Zu viel Aufregung für einen Abend
vor einem Schultag, Billy«, sagte Nana Victoria.
    »Unsinn«, widersprach Grandpa Harry. »Zeig mir die Bücher, die du
mitgebracht hast, Bill.«
    »Miss Frost hat sie für mich ausgewählt«, sagte ich und gab ihm die
Romane.
    » Miss Frost!«, verkündete meine Großmutter
wieder und mit unüberhörbarer Geringschätzung.
    »Vicky, Vicky«, mahnte Grandpa Harry sie; es klang wie kleine
aufeinanderfolgende Klapse.
    »Mommy, bitte nicht«, sagte meine Mutter.
    »Es sind tolle Romane«, gab mein Großvater bekannt. »Ja, es sind
Klassiker. Und – alle Achtung, Miss Frost weiß, welche Romane ein Junge lesen
sollte.«
    [74]  »Alle Achtung!«, wiederholte Nana abfällig.
    Es folgten ein paar schwerverständliche Gehässigkeiten über

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