Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
getan hatten. Denn weil sie im Sommer 1957 heirateten – genauer gesagt, weil Richard Abbott mich rechtskräftig adoptierte –, wurde
mein Name von William Francis Dean in William Marshall Abbott geändert. Ich
würde meine Jahre in der Oberstufe mit einem nagelneuen Namen beginnen – der
mir sogar gefiel!
    Richard hatte eine Lehrerwohnung in einem der [80]  Wohnheime des
Internats, die er und meine Mom in ihrem neuen gemeinsamen Leben teilten, und
ich hatte dort mein eigenes Zimmer. Von da aus war es nur ein Katzensprung die
River Street hinauf zum Haus meiner Großeltern, wo ich bisher aufgewachsen war,
und ich besuchte sie oft. So wenig ich meine Großmutter mochte, so sehr mochte
ich Grandpa Harry; natürlich sah ich ihn auch weiterhin auf der Bühne, in
Frauenrollen, doch als ich Schüler auf der Favorite River Academy wurde, konnte
ich bei den Proben der First Sister Players nicht mehr regelmäßig hinter der
Bühne sein.
    Auf der Academy bekam ich viel mehr Hausaufgaben als vorher in der
Grundschule oder in der Mittelstufe, und Richard Abbott leitete auf der
Privatschule den sogenannten Theaterclub. Richards Ambitionen in Sachen
Shakespeare zogen mich immer mehr zum Theaterclub hin und weg von den First
Sister Players, wo ich mir nur noch die fertigen Aufführungen ansah. Die Bühne
des Theaterclubs, auch das Theater der Academy insgesamt, war größer und besser
ausgestattet als das drollige kleine städtische Schauspielhaus. (Das Wort drollig war neu in meinem Wortschatz. Überhaupt entwickelte
ich mich auf der Favorite River Academy ein wenig zum Snob, wie mir Miss Frost
eines Tages mitteilte.)
    Und so wie meine unangemessene Schwärmerei für Richard Abbott meiner
Lust auf und brennenden Sehnsucht nach Miss Frost wich, so waren an die Stelle
zweier begabter Laien (Grandpa Harry und Tante Muriel) zwei weitaus
talentiertere Schauspieler getreten. Rasch wurden Richard Abbott und Miss Frost
zu den Superstars der First Sister Players. Miss Frost bekam nicht nur die
Rolle als [81]  neurotische Hedda neben Richards furchtbar kontrollwütigem Richter
Brack; im Herbst 1956 spielte sie auch die Nora in Nora oder
Ein Puppenheim. Richard wurde, wie von ihm vermutet, als ihr
langweiliger und verständnisloser Ehemann Torvald Helmer besetzt. Eine
ungewöhnlich kleinlaute Tante Muriel sprach fast einen Monat lang kein Wort mit
ihrem eigenen Vater, weil Grandpa Harry (nicht Muriel) die Rolle der Frau Linde
bekommen hatte. Und Nils Borkman ließ sich von Richard Abbott und Miss Frost
zur Rolle des bedauernswerten Krogstad überreden, den der grimmige Norweger bravourös
und mit einer geradezu unheimlichen Mischung aus Schwermut und
Selbstgerechtigkeit spielte.
    Wichtiger noch als das, was diese bunte Amateurtruppe mit Ibsen
anstellte, war, dass zu Beginn des Schuljahres 1956/57 eine neue Lehrerfamilie
in der Favorite River Academy Einzug hielt – ein Ehepaar namens Hadley mit nur
einem Kind, einer schlaksigen Tochter: Elaine. Mr. Hadley war Geschichtslehrer.
Mrs. Hadley, die Klavier spielte, erteilte Sprech- und Gesangsunterricht und
leitete den Academy-Chor. Die Hadleys freundeten sich mit Richard und meiner
Mom an, so dass Elaine und ich uns häufig sahen. Ich war ein Jahr älter, was
mir – damals – das Gefühl gab, viel älter als Elaine zu sein, die im Bereich
Brustentwicklung echte Defizite aufwies. (Bestimmt würde Elaine nie Brüste bekommen, malte ich mir aus, da mir aufgefallen
war, dass Mrs. Hadley so gut wie keinen Busen hatte – selbst wenn sie sang.)
    Elaine war stark weitsichtig; damals ließ sich das nur mittels
extradicker Brillengläser korrigieren, wodurch die [82]  Augen so groß wirkten,
als würden sie gleich aus dem Kopf springen. Ihre Mutter hatte ihr das Singen
beigebracht, außerdem hatte Elaine eine kräftige, ausdrucksvolle Sprechstimme.
Wenn sie sprach, klang es fast, als würde sie singen – man hörte jedes Wort
ganz genau.
    »Elaine weiß, wie man laut und deutlich spricht«, sagte Mrs. Hadley.
Sie hieß Martha; hübsch war sie nicht, aber ausgesprochen nett und der erste
Mensch, der ansatzweise merkte, dass ich bestimmte Wörter nicht korrekt
aussprechen konnte. Sie sagte meiner Mutter, es gäbe da Stimmübungen, die ich
probieren könnte, und vielleicht würde auch Singen helfen. Doch damals im
Herbst 1956 war ich noch in der Mittelstufe und ließ mich durch nichts vom
Lesen abbringen. Mit »Stimmübungen« oder Singen wollte ich nichts zu tun haben.
    All diese wichtigen

Weitere Kostenlose Bücher