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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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Marshall trete
als Frau auf, bei ihr einen Gehirnschaden verursacht.
    Ralph Ripton gelang es, seine Pfeife mit frischem Tabak zu stopfen,
ohne dabei den Blick von der Bühne zu wenden. Zuerst dachte ich, Mr. Ripton
fülle seine Pfeife, um sie in der Pause zu rauchen – er benutzte immer den
Stumpf seines abgetrennten linken Zeigefingers, um den Tabak fest in den
Pfeifenkopf zu stopfen –, doch später fiel mir auf, dass die Riptons nach der
Pause nie wiederkamen. Sie kamen in der erklärten Absicht in das Theater, nicht
zu mögen, was sie sahen, und früh zu gehen.
    Grandpa Harry hatte mir erzählt, dass Ralph Ripton in der ersten Reihe
sitzen musste, um überhaupt etwas zu hören; das große Sägeblatt im Werk gab ein
so schrilles Jaulen von sich, dass er taub geworden war. Doch mir fiel auf,
dass dem Sägewerker noch mehr fehlte als sein Hörvermögen.
    Aber in diesen vorderen Reihen gab es andere Gesichter – viel
Stammpublikum –, und auch wenn ich von den meisten weder Name noch Beruf
kannte, merkte ich schon als Kind, wie heftig sie Grandpa Harrys Auftritte als
Frau missbilligten. Fairerweise muss man sagen: Wenn Harry Marshall als Frau küsste – also wenn er auf der Bühne einen anderen Mann
küsste –, lachten, johlten oder klatschten die [252]  meisten Zuschauer. Doch ich
wusste inzwischen, wo diejenigen mit den verkniffenen Mienen zu finden waren –
es gab immer ein paar. Ich sah, wie sie erschauderten oder wütend wegschauten;
ich sah, wie sich ihre Augen vor Abscheu zu Schlitzen verengten, weil Grandpa
Harry als Frau küsste.
    Harry Marshall spielte alle möglichen Frauen – er war eine verrückte
Dame, die sich wiederholt in die eigene Hand biss, er war eine schluchzende
Braut, die vor dem Altar stehen gelassen wurde, er war eine Serienmörderin
(eine Friseuse), die ihre Freunde vergiftete, und er war eine hinkende
Polizistin. Mein Großvater liebte das Theater, und ich sah ihn liebend gern auf
der Bühne, aber vielleicht gab es in First Sister, Vermont, Menschen mit eher
begrenzter Phantasie, die Harry Marshall als Sägewerksbesitzer kannten und als
Frau einfach nicht akzeptieren konnten.
    Ich sah sogar mehr als augenscheinliches Missfallen und Ablehnung in
den Gesichtern unserer Bürger – ich sah mehr als Häme, Schlimmeres als
Gemeinheit. In einigen dieser Gesichter sah ich Hass.
    Den zu einem dieser Gesichter gehörenden Namen kannte ich nicht, bis
ich den Mann bei meiner ersten Morgenversammlung in der Favorite River Academy
sah. Es war Dr. Harlow, unser Schularzt – der meist so herzlich und jovial war,
wenn er zu uns Jungs sprach. In Dr. Harlows Miene las ich, dass Harry Marshalls
Begeisterung für Frauenrollen ein Leiden war; aus Dr.
Harlows Gesichtsaudruck sprach die feste Überzeugung, dass dieses Leiden
heilbar war. Und so fürchtete und hasste ich Dr. Harlow, noch ehe ich wusste,
wer er war.
    [253]  Und selbst als Kind hinter der Bühne dachte ich damals: Also wirklich! Begreift ihr das denn nicht? Es ist alles nur ein
Spiel! Doch diese Gesichter mit den finsteren Blicken im Publikum
kauften uns das nicht ab. Diese Gesichter sagten: » Das könnt ihr uns nicht vorgaukeln; damit kommt ihr nicht
durch.«
    Als Kind hatte ich Angst vor dem, was ich aus meinem Versteck hinter
der Bühne auf den Gesichtern im Publikum sah. Als ich siebzehn war und meinem
Großvater von meinen Schwärmereien für Knaben, Männer und eine
zusammengestückelte Version von Martha Hadley als Teenager- BH -Modell erzählte, fürchtete ich mich immer noch vor
dem, was ich in manchen Gesichtern im Publikum der First Sister Players gesehen
hatte.
    Ich erzählte Grandpa Harry, dass ich einige unserer Mitbürger dabei
beobachtet hatte, wie sie ihn auf der Bühne beobachteten. »Dass es nur gespielt
war, kümmerte die nicht«, sagte ich ihm. »Nur dass es ihnen nicht gefiel. Sie
haben dich gehasst – Ralph Ripton und seine Frau,
sogar Mrs. Poggio, ganz bestimmt Dr. Harlow. Sie hassten, dass du so tatst, als wärst du eine Frau.«
    »Weißt du, was ich dazu sage, Bill?«, fragte mich Grandpa Harry.
»Ich sage, man kann spielen, was immer man will.« Damals hatte ich Tränen in
den Augen, weil ich Angst um mich hatte – kaum anders als damals, als ich ein
Kind war und hinter der Bühne um Grandpa Harry Angst hatte.
    »Ich hab Elaine Hadleys BH geklaut,
weil ich ihn tragen wollte!«, platzte ich heraus.
    »Och, also – jeder macht mal einen Fehler, Bill. Lass dir [254]  deswegen
keine grauen Haare

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