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In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
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ist es ja nur auf der Bühne«, hatte Harry gesagt.
    »Du und dein ewiges Nur-auf-der-Bühne «,
hatte ihn Nana Victoria angeraunzt. »Manchmal glaube ich, dein Lebenszweck ist
es, merkwürdig zu sein, Harold.«
    »Toleranz, übe dich in Toleranz, Vicky«, deklamierte Grandpa Harry
und zwinkerte mir zu.
    [246]  Vielleicht beschloss ich deshalb, ihm zu erzählen, was ich Mrs.
Hadley erzählt hatte – nämlich von meiner leicht eingerosteten Schwärmerei für
Richard, dass ich mich immer stärker zu Kittredge hingezogen fühlte, sogar
davon, dass ich mir zum Masturbieren seltsamerwiese Martha Hadley als Teenager- BH -Modell vorstellte, aber nicht (immer noch nicht) von
meiner uneingestandenen Liebe zu Miss Frost.
    »Du bist ein ganz lieber Junge, Bill – damit meine ich natürlich,
dass du mitfühlend bist und dir die größte Mühe gibst, ihre Gefühle nicht zu
verletzen. Das ist bewundernswert, ausgesprochen bewundernswert«, sagte mir
Grandpa Harry, »aber du musst aufpassen, dass du dabei nicht unter die Räder kommst. Es ist sicherer, sich zu der einen Art von
Leuten hingezogen zu fühlen als zu der anderen.«
    »Du meinst nicht andere Jungs, oder?«, fragte ich ihn.
    »Ich meine manche anderen Jungs. Ja. Nur
einem besonderen Jungen kann man unbesorgt sein Herz
öffnen. Manche Jungs würden dir weh tun«, sagte Grandpa Harry.
    »Kittredge beispielsweise?«, fragte ich.
    »Vermutlich, ja«, sagte Harry. Er seufzte. »Vielleicht nicht hier,
Bill – nicht auf dieser Schule, nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Dass du dich zu
anderen Jungs oder Männern hingezogen fühlst, muss vielleicht noch warten.«
    »Bis wann warten – und wo?«, fragte ich ihn.
    »Na ja…«, begann Grandpa Harry stockend. »Ich finde, Miss Frost hat
sehr gute Bücher für dich ausgewählt«, setzte er neu an. »Bestimmt könnte sie
dir auch dazu Bücher empfehlen – zu dem Thema, dass man sich zu anderen Jungs
oder Männern hingezogen fühlt und wann und [247]  wo man solchen Verlockungen
nachgibt. Wohlgemerkt, ich kenne keine solchen Bücher, Bill, wette aber, dass
es sie gibt; solche Bücher existieren, das weiß ich, und vielleicht kann dir
Miss Frost Genaueres sagen.«
    Fast hätte ich ihm auf der Stelle gestanden, dass ich mich auch zu
Miss Frost hingezogen fühlte, doch irgendetwas hinderte mich daran; vielleicht
schwieg ich, weil sie die stärkste Anziehungskraft auf mich ausübte. »Aber wie
soll ich auch nur anfangen, das Miss Frost zu
erzählen«, sagte ich zu Grandpa Harry. »Ich wüsste nicht mal, wie ich ansetzen sollte – das heißt, noch ehe ich zu der Frage
komme, ob es Bücher zu dem Thema gibt oder nicht.«
    »Ich glaube, du kannst Miss Frost erzählen, was du mir erzählt hast,
Bill«, sagte Grandpa Harry. »Ich bin mir ziemlich sicher, dass sie dafür Verständnis hat.« Er küsste mich auf die Stirn und nahm
mich in den Arm – aus der Miene meines Großvaters sprach sowohl Zuneigung als
auch Besorgnis. Wie er das Wort Verständnis betonte,
weckte in mir eine lange verdrängte Erinnerung; vielleicht bildete ich es mir
auch nur ein, aber wenn ich hätte wetten müssen, würde ich es eine Erinnerung
nennen.
    Wie alt ich damals war, weiß ich nicht – vielleicht zehn, höchstens
elf. Das war lange bevor Richard Abbott auf der Bildfläche erschien; ich war
noch Billy Dean, und meine alleinerziehende Mom hatte noch keinen Verehrer.
Doch Mary Marshall Dean arbeitete schon seit langem als Souffleuse bei den
First Sister Players, und so jung und unschuldig ich damals auch gewesen sein
mag, so durfte ich mich doch schon lange hinter der Bühne aufhalten. Ich hatte
überall freien Zutritt – vorausgesetzt, ich blieb ruhig und [248]  lief den
Schauspielern nicht im Weg rum. (»Du bist nicht zum Reden hinter der Bühne,
Billy«, sagte meine Mom eines Tages zu mir, »sondern um zuzuschauen und
zuzuhören.«)
    Ich glaube, ein englischer Dichter – war es Auden? – sagte, ehe man
etwas schreiben könne, müsse einem etwas auffallen. (Zugegeben, das hat mir
Lawrence Upton erzählt; vermutlich stammt es von Auden, Larry war nämlich
Auden-Fan.)
    Wer es gesagt hat, ist eigentlich unwichtig – es stimmt einfach.
Bevor man etwas schreiben kann, muss man etwas bemerken. Dieser Teil meiner
Kindheit – als ich mich in dem kleinen Theater der Laienspielschar unseres
Städtchens hinter der Bühne aufhielt – war die Auffall -Phase
auf meinem Weg, ein Schriftsteller zu werden. So fiel mir unter anderem
(vielleicht sogar als Erstes) auf,

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