In einer Person
dass nicht jeder es toll oder lustig fand,
dass mein Großvater in den Produktionen der First Sister Players so viele
Frauenrollen spielte.
Ich war schrecklich gern hinter der Bühne und sah und hörte einfach
nur gut zu. Ich mochte auch die Übergänge – beispielsweise den Zeitpunkt, wenn
die Schauspieler nicht mehr aus dem Textbuch ablesen durften und meine Mutter
ihnen soufflierte. Dann kam plötzlich dieser magische Moment, wenn sogar diese
Laienschauspieler völlig in ihren Rollen aufgingen; wie viele Proben ich auch
besucht habe, ich erinnere mich genau an die rasch verfliegende Illusion, wenn
das Stück plötzlich real zu sein schien. Und doch sah oder hörte man bei der
Kostümprobe immer etwas, was einem völlig neu vorkam. Und zum Schluss, am [249] Premierenabend,
gab es den Reiz, das Stück zum ersten Mal mit Publikum zu sehen und zu hören.
Ich weiß noch, dass ich als Kind am Premierenabend so aufgeregt war
wie die Schauspieler. Von meinem Versteck hinter der Bühne aus hatte ich einen
ziemlich guten (wenn auch lückenhaften) Blick auf die Schauspieler. Das
Publikum konnte ich besser sehen – allerdings nur die Gesichter in den ersten
zwei oder drei Sitzreihen. (Je nachdem, wo sich meine Mutter als Souffleuse
platziert hatte, war das entweder ein Blick auf die rechts oder links direkt
vor der Bühne sitzenden Zuschauer.)
Ich sah das Publikum ein wenig frontaler als im Profil, denn die
Leute sahen immer nur die Schauspieler auf der Bühne an, nie mich. Wenn ich
ehrlich sein soll, kam ich mir auf meinem Beobachtungsposten ein wenig wie ein
Spitzel vor, ich hatte das Gefühl, das Publikum auszuspionieren – zumindest das
in den vorderen Reihen. Die Saalbeleuchtung war zwar aus, doch das jeweilige
Licht auf der Bühne reichte bis zu ihnen; mal war es heller, mal weniger hell,
doch fast immer konnte ich die Gesichter der Leute sehen und ihre Mienen
beobachten.
Das Gefühl, dass ich diese exponiertesten Theaterbesucher aus First
Sister »bespitzelte«, rührte daher, dass man als Teil eines Theaterpublikums,
dessen ungeteilte Aufmerksamkeit den Schauspielern auf der Bühne gilt, nie auf
die Idee kommt, dass man selbst auch von jemandem beobachtet werden könnte.
Doch ich beobachtete sie; in ihren Mienen las ich alles, was sie dachten und
fühlten. Bis zum Premierenabend kannte ich das Stück auswendig, schließlich war
ich auf fast allen Proben. Mittlerweile interessierte [250] ich mich viel mehr für
die Reaktion des Publikums als für das, was die Schauspieler auf der Bühne
machten.
Bei jeder Premierenaufführung – ganz gleich, welche Frau (oder
welche Art von Frau) Grandpa Harry spielte –, beobachtete ich fasziniert, wie
das Publikum auf Harry Marshall als Frau reagierte.
Da war der reizende Mr. Poggio, der Lebensmittelhändler aus unserer
Straße. Er hatte eine Glatze wie Grandpa Harry, war aber erbärmlich kurzsichtig – er saß immer in der ersten Reihe, und selbst in der ersten Reihe kniff Mr.
Poggio die Augen zusammen. Sobald Grandpa Harry die Bühne betrat, schüttelte
sich Mr. Poggio vor unterdrücktem Gelächter; Tränen liefen ihm über die Wangen,
und ich musste den Blick von seinem offenen, von Zahnlücken gespickten
grinsenden Mund abwenden, sonst hätte ich selbst auch einen Lachanfall
bekommen.
Mrs. Poggio war von Grandpa Harrys Frauendarstellungen
seltsamerweise weniger angetan; sobald er auftrat, runzelte sie die Stirn und
biss sich auf die Unterlippe. Auch schien es ihr nicht zu gefallen, wie sehr
sich ihr Ehemann an Grandpa Harry als Frau ergötzte.
Und dann war da Mr. Ripton – Ralph Ripton, der Sägewerker. Er
bediente das größte Sägeblatt in Grandpa Harrys Sägewerk und Holzlager. Die
Bedienung des Hauptsägeblattes war eine sehr verantwortungsvolle (und
gefährliche) Tätigkeit. Ralph Ripton fehlten der Daumen und die ersten beiden
Glieder des Zeigefingers seiner linken Hand. Ich hatte oft gehört, wie es zu
dem Unfall gekommen war; sowohl Grandpa Harry als auch sein Kompagnon, Nils
Borkman, erzählten die blutige Geschichte gern.
[251] Ich hatte immer geglaubt, dass Grandpa Harry und Mr. Ripton Freunde wären – gewiss waren sie mehr als Arbeitskollegen.
Doch Ralph mochte Grandpa Harry als Frau gar nicht; Mr. Ripton hatte einen
bösen, ablehnenden Gesichtsausdruck, wenn er Grandpa Harry in einer Frauenrolle
auf der Bühne sah. Mr. Riptons Frau saß mit ausdruckslosem Gesicht neben ihrem
überkritischen Mann, als hätte bereits die Vorstellung, Harry
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