In einer Person
wachsen«, sagte Grandpa Harry.
Seltsam, wie sehr mich das erleichterte – dass ich ihn damit nicht
schockierte. Harry Marshall sorgte sich nur um meine Sicherheit, so wie ich
mich früher mal um die seine.
»Hat Richard es dir erzählt?«, fragte mich Grandpa Harry plötzlich.
»Irgendwelche Deppen haben Was ihr wollt verboten –
das heißt, im Laufe der Jahre haben diverse Vollidioten Shakespeares Was ihr wollt auf den Index gesetzt, immer wieder!«
»Warum?«, fragte ich ihn. »Das ist doch irre !
Das ist eine Komödie, eine romantische Komödie! Welchen Grund könnte es geben, sie zu verbieten ?«
»Tja, also – da kann ich nur raten«, sagte Grandpa Harry.
»Sebastians Zwillingsschwester Viola – die ihrem Bruder sehr ähnlich sieht.
Darum geht es doch, nicht wahr? Deshalb verwechseln manche Sebastian mit Viola – nachdem Viola sich als Mann verkleidet hat und herumläuft und sich Cesario
nennt. Verstehst du nicht, Bill? Viola ist eine Hosenrolle, also
Cross-Dressing! Deshalb hat Shakespeare Probleme
bekommen! Nach allem, was du mir erzählt hast, ist dir vermutlich aufgefallen,
dass konservative oder bornierte Menschen bei Cross-Dressing keinerlei Spaß
verstehen.«
»Ja, ist mir auch aufgefallen«, sagte ich.
Doch etwas Anderes, was mir bisher nicht aufgefallen war, setzte mir jetzt zu. In all den Jahren hinter der Bühne hatte
ich es doch tatsächlich versäumt, die Souffleuse zu beobachten. Kein einziges
Mal hatte ich den [255] Gesichtsausdruck meiner Mutter bemerkt, wenn sie ihren
Vater in einer Frauenrolle auf der Bühne sah und hörte.
An jenem Sonntagabend im Winter, als ich nach meinem kurzen Gespräch
mit Grandpa Harry in die Bancroft Hall zurückkehrte, schwor ich mir, das
nächste Mal auf die Souffleuse zu achten, wenn Harry als Maria in Was ihr wollt auftrat.
Ich wusste, es würde Gelegenheiten geben – wenn Sebastian nicht auf
der Bühne war, aber Maria. Ich fürchtete mich vor dem, was ich im hübschen
Gesicht meiner Mutter entdecken könnte; ich bezweifelte, dass sie lächeln
würde.
Wegen Was ihr wollt hatte ich von
vornherein kein gutes Gefühl. Kittredge hatte etliche seiner Ringerkumpel zum
Vorsprechen überredet. Richard hatte vier von ihnen, wie er es nannte, »ein
paar kleinere Rollen« gegeben.
Aber Malvolio ist keine kleine Rolle; das
Schwergewicht des Ringerteams, ein mürrischer Nörgler, wurde als Olivias
Haushofmeister besetzt – ein arroganter Spießer, dem man einredet, Olivia
begehre ihn. Ich muss zugeben, dass Madden, das Schwergewicht, der sich als
ständiges Opfer sah, für diese Rolle gut geeignet war; Kittredge hatte Elaine
und mir erzählt, Madden leide an dem »Letzter-Einsatz-Syndrom«.
Seinerzeit begannen alle Wettkämpfe zweier Teams mit der leichtesten
Gewichtsklasse; die Schwergewichtler rangen als Letzte. Bei einem engen
Wettkampf kam es darauf an, wer den Schwergewichtskampf gewann – Madden verlor
gewöhnlich. Wie passend, dass Malvolio als Verrückter eingesperrt wird und sich
gegen sein Schicksal auflehnt – [256] »man hat niemals einem so übel mitgespielt«,
jammert Madden als Malvolio.
»Wenn du deiner Rolle gerecht werden willst, Madden«, hörte ich
Kittredge zu seinem unglücklichen Mannschaftskameraden sagen, »denk einfach
daran, wie ungerecht es ist, Schwergewichtler zu
sein.«
»Aber es ist doch wirklich ungerecht, Schwergewichtler zu sein!«,
wehrte sich Madden.
»Du gibst einen tollen Malvolio ab, das weiß ich«, sagte Kittredge
wie immer von oben herab.
Ein anderer Ringer – einer der Leichtgewichtler, der sich jedes Mal
abmühte, um beim Wiegen auf sein Gewicht zu kommen – wurde als Junker Christoph
von Bleichenwang besetzt, Junker Tobias’ Begleiter. Der Junge, er hieß
Delacorte, war unheimlich dünn. Oft war er vom Abspecken, oder wie man im
Ringerjargon sagt, vom Abkochen, so dehydriert, dass er an Mundtrockenheit
litt. Er spülte sich den Mund mit Wasser aus einem Pappbecher aus, das er dann
in einen anderen Pappbecher spuckte. »Vertausch deine Becher nicht, Delacorte«,
sagte Kittredge zu ihm. (Ich hatte mal gehört, wie Kittredge ihn »Becherheini«
nannte.)
Es hätte keinen überrascht, wenn Delacorte vor Hunger ohnmächtig
geworden wäre. Ständig fuhr er sich mit den Fingern durch die Haare, um sich zu
vergewissern, dass sie nicht ausfielen. »Haarausfall ist ein Zeichen, dass man
verhungert«, klärte uns Delacorte ernst auf.
»Warum kämpft Delacorte nicht eine Gewichtsklasse höher?«, hatte
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