Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer Person

In einer Person

Titel: In einer Person Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Irving
Vom Netzwerk:
Abenteuer einließen, waren wir alt genug,
um zu wissen, dass Freunde wichtiger waren als Geliebte oder Liebhaber – was
nicht zuletzt daran lag, dass Freundschaften meist länger halten als
Beziehungen. (Man sollte zwar nicht verallgemeinern, aber auf Elaine und mich
traf das gewiss zu.)
    Wir teilten uns eine schäbige Wohnung im siebten Stock in der Post
Street, San Francisco – in dem zwischen Taylor und Mason gelegenen Teil der
Post Street, Nähe Union Square. Elaine und ich hatten jeder ein eigenes Zimmer,
um zu schreiben. Unser Schlafzimmer war groß und schön gelegen – mit Blick auf
einige Dächer an der Geary Street und das senkrechte Schild des Hotels Adagio.
Nachts blieben die Neonröhren für das Wort HOTEL dunkel – vermutlich durchgebrannt –, so dass nur ADAGIO leuchtete. Wenn ich [280]  mal wieder nicht schlafen konnte, stieg ich aus dem
Bett, ging ans Fenster und betrachtete das blutrote ADAGIO -Schild.
    Als ich eines Nachts wieder ins Bett stieg, weckte ich versehentlich
Elaine und fragte sie nach dem Wort ADAGIO .
Es war Italienisch, so viel wusste ich. Durch meine Ausflüge in die Welt der
Oper und anderer Musikstile in Wien (mit Esmeralda und mit Larry) wusste ich,
dass das Wort in der Musik eine gewisse Bedeutung hatte. Ich wusste, dass
Elaine wissen würde, was es bedeutete; wie ihre Mutter war Elaine sehr
musikalisch. (Northfield hatte ihr gutgetan – dort wurde Musik
großgeschrieben.)
    »Was heißt das?«, fragte ich Elaine, als wir in unserer schäbigen
Wohnung in der Post Street wach nebeneinander im Bett lagen.
    » Adagio heißt langsam, leise, sanft«,
antwortete Elaine.
    »Oh!«
    Das war das Beste, was man außerdem über unsere Versuche mit der
körperlichen Liebe sagen konnte – sie waren ebenso wenig erfolgreich wie unsere
Versuche zusammenzuleben, aber immerhin probierten wir es. »Adagio«, sagten wir bei unseren Versuchen, miteinander zu schlafen, oder danach, wenn
wir einzuschlafen versuchten. Wir sagen es immer noch; wir sagten es, als wir
aus San Francisco wegzogen, und wir schreiben es uns noch heute am Schluss
unserer Briefe oder E-Mails. Das bedeutet wohl Liebe für uns – nur adagio. (Langsam, leise, sanft.) So funktioniert es
jedenfalls unter Freunden.
    »Wer war sie denn nun wirklich – die Frau auf all den Fotos?«,
fragte ich Elaine in dem schöngelegenen [281]  Schlafzimmer mit Blick auf das Hotel
Adagio mit seinem defekten Neonschild.
    »Weißt du, Billy – sie kümmert sich immer noch um mich. Sie wird
immer irgendwo in der Nähe sein, per Hand meine Temperatur messen, das Blut in
meiner Binde kontrollieren, um zu sehen, ob die Blutung noch ›normal‹ ist. Die
war übrigens immer ›normal‹, aber sie überprüft sie immer noch – ich sollte
wissen, dass ich mir ihrer Fürsorge immer sicher sein kann.«
    Ich lag da und dachte darüber nach – das einzige Licht jenseits des
Fensters waren der trübe Lichterglanz am Union Square und das kaputte
Neonschild.
    »Willst du wirklich sagen, dass Mrs. Kittredge immer
noch  –«
    »Billy!«, unterbrach mich Elaine. »Ich war mit keinem anderen
Menschen je so intim wie mit dieser schrecklichen Frau. Ich werde nie wieder
jemandem so nahe sein.«
    »Was ist mit Kittredge?«, fragte ich sie, obwohl ich es nach all den
Jahren hätte besser wissen müssen.
    »Scheiß auf Kittredge!«, rief Elaine. »Seine Mutter hat mich fürs
Leben gezeichnet! Sie werde ich nie vergessen!«
    » Wie intim? Wie hat sie dich gezeichnet?«, bohrte ich nach, doch Elaine hatte angefangen zu
weinen, und ich schloss sie einfach nur in die Arme – langsam, leise, sanft –
und schwieg. Nach ihrer Abtreibung hatte ich sie schon gefragt; darum ging es
nicht. Sie hatte noch eine weitere Abtreibung gehabt, nach der in Europa.
    »So übel sind sie gar nicht, wenn man die Alternative bedenkt«; mehr
hatte Elaine nie zu ihren Abtreibungen gesagt. Wie auch immer Mrs. Kittredge
sie gezeichnet haben [282]  mochte, damit hatte es nichts
zu tun. Und wenn Elaine mit dem Lesbischsein – also mit Mrs. Kittredge –
»experimentiert« hatte, so würde Elaine sich darüber ausschweigen, und zwar bis ins Grab.
    Was ich mir über Kittredges Mutter oder wie »nahe« Elaine ihr je
war, vorstellen konnte, basierte auf Elaines Fotos. Die Schatten und
Körperteile der Frau (oder Frauen) auf diesen Fotos sind für mich lebendiger
als die Erinnerung an Mrs. Kittredge bei dem einen Ringkampf – das erste und
einzige Mal, dass ich sie leibhaftig sah. Ich kenne

Weitere Kostenlose Bücher