In einer Person
samt
gusseisernen Einlegearbeiten. Ein nackter Frauenarm hält die schwer aussehende
Tür für Elaine auf, die den Arm nicht zu bemerken scheint – mit einem Armreif
am Handgelenk, Ringen am kleinen Finger und Zeigefinger –, oder vielleicht war
es Elaine auch egal, ob die Frau da war oder nicht. Man kann die lateinische
Inschrift auf der Kapelle lesen: ANNO DOMINI MDCCCCVIII .
Elaine hatte das auf der Rückseite des Fotos übersetzt: Im
Jahre des Herrn 1908 . (Sie hatte [277] ergänzt: Da will
ich heiraten, falls ich je verzweifelt genug bin, um zu heiraten – in dem Fall
erschieß mich bitte. )
Am besten gefällt mir das Foto von Margaret Olivia Hall, dem
Musikgebäude in Northfield, weil ich weiß, wie gern Elaine immer gesungen hat –
zum Singen war ihre mächtige Stimme wie geschaffen. (»Ich singe so gern, bis
ich weine, und dann singe ich weiter«, wie sie mir einmal schrieb.)
Zwischen den Fenstern der oberen Etagen des Musikgebäudes waren die
Namen von Komponisten eingemeißelt; ich habe die Namen auswendig gelernt:
Palestrina, Bach, Händel, Beethoven, Wagner, Gluck, Mozart, Rossini. In dem
Fenster über dem u in Gluck ,
das wie ein v gemeißelt war, sah man eine Frau ohne
Kopf – nur den Torso –, die lediglich einen BH trug. Anders als Elaine, die an dem Gebäude lehnt, hat die kopflose Frau sehr
auffällige Brüste – große.
»Wer ist das?«, fragte ich Elaine immer und immer wieder.
Sollten Sie es noch nicht bemerkt haben, das Musikgebäude mit den
Komponistennamen ließ darauf schließen, was für eine anspruchsvolle Schule
Northfield war; ein Internat wie die Favorite River Academy stellte sie
problemlos in den Schatten. Verglichen mit dem, was Elaine von der staatlichen
Highschool in Ezra Falls gewohnt war, bedeutete dies einen Quantensprung.
Die meisten besseren Internate in New England waren damals reine
Mädchen- oder Jungenschulen. Viele der Jungenschulen statteten die Töchter
ihres Lehrpersonals mit Schulgeldstipendien aus; so konnten die Mädchen ein [278] reines
Mädcheninternat besuchen und mussten sich nicht mit der staatlichen Highschool
begnügen. (Ich will nicht ungerecht sein: Die staatlichen Schulen in Vermont
waren nicht alle so schlecht wie die in Ezra Falls.)
Als die Hadleys Elaine nach Northfield schickten – zunächst auf
eigene Kosten –, reagierte Favorite River richtig: Die Academy stellte eine Art
Gutscheine für die Töchter ihres Lehrpersonals zur Verfügung. Meine ziemlich
derbe Cousine Gerry rieb es mir unentwegt unter die Nase – nämlich dass dieser
Kurswechsel zu spät kam, um sie vor der staatlichen Schule in Ezra Falls zu
retten. Gerry war nun mal im selben Frühjahr aufs College gewechselt, als
Elaine mit Mrs. Kittredge nach Europa reiste. »Anscheinend wäre es klug
gewesen, wenn ich mich vor ein paar Jahren hätte schwängern lassen –
vorausgesetzt, der Glückliche hätte eine französische Mutter«, wie es Gerry
formulierte. (Ich konnte mir problemlos vorstellen, wie Muriel das als Teenager
sagte – obwohl es für mich nach Was ihr wollt, als
ich unentwegt ihre Brüste anstarren musste, geradezu beängstigend war, mir
Tante Muriel als Teenager vorzustellen.)
Ich könnte auch noch andere Fotos beschreiben, die Elaine mir aus
Northfield geschickt hat – ich habe sie alle aufbewahrt –, doch das Muster
würde sich lediglich wiederholen. Auf jedem von Elaines Fotos gab es die
unscharfe Teilansicht einer anderen Frau und die eindrucksvollen Gebäude auf
dem Campus von Northfield zu bewundern.
»Wer ist das? Ich weiß, dass du weißt, wen ich meine – sie ist auf
jedem Foto, Elaine«, sagte ich und ließ nicht locker. »Nun zier dich doch nicht
so!«
[279] »Ich ziere mich nicht, Billy – und ausgerechnet du redest von
sich zieren, wenn du damit meinst, dass man ausweichend antwortet oder nur
durch die Blume über Dinge redet. Wenn du verstehst, was ich meine«, sagte
Elaine daraufhin jedes Mal.
»Schon gut, schon gut – ich soll also raten, wer sie ist, stimmt’s? Du zahlst es mir also heim, dass ich nicht gerade
aufrichtig zu dir war? Wärmer oder kälter?«, fragte ich meine liebe Freundin.
Elaine und ich würden versuchen zusammenzuleben, auch wenn das
erst viele Jahre später geschah, nachdem wir beide genügend Enttäuschungen in
unserem Leben erlebt hatten. Es würde nicht funktionieren – nicht lange
jedenfalls –, aber wir waren zu gute Freunde, um nicht wenigstens den Versuch
zu machen. Und als wir uns auf dieses
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