In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
pflichtschuldigst. »Worauf genau würde das hinweisen?«
Er zuckte mit den Achseln. »Sie hat ihn gekratzt. Aber das will nicht viel bedeuten. Ich meine, es muß nicht unbedingt heißen, daß ein Kampf stattgefunden hat. Vielleicht wollte er, daß sie ihn kratzt.« Er wurde rot. »Also, ich habe die beiden natürlich nicht gekannt, als die Missus noch am Leben war – aber ich habe den Mann bei ihrer Beerdigung erlebt. Glauben Sie mir, ich habe viele Trauernde gesehen, aber Jamie MacDonald war bisher der einzige Witwer, der vor Schmerz nicht mehr stehen konnte. Er war … am Ende – ich schätze, der Ausdruck trifft es.«
»Danke, Mr. Huntley«, fiel ihm Audra geschwind ins Wort, bevor er ihren Fall noch weiter unterminieren konnte. »Das wäre alles.«
Hugo ging und schloß die Tür hinter sich. Audra wandte sich an die Geschworenen und lächelte gewinnend. »So«, sagte sie, »gibt es noch Fragen?«
Cam spazierte durch das kleine Dachzimmer, das wie eine übermöblierte Landhausküche wirkte, komplett mit Ochsenjoch über dem Eingang und Fleckerlteppichen. Es gab eine atemberaubende Menge an Kuh-Krimskrams: Löffelhalter, Salz und Pfeffer mit Kuhfleckenmuster, einen Milchkrug in Form einer jungen Kuh, einen schwarzweiß gefleckten Lehnstuhl, Kuhdecken und gerahmte Kuhposter an den Wänden. Der Raum wirkte überladen, chaotisch, und er hätte nie geglaubt, daß Mia hier lebte, stünde nicht ihr Bonsai in der Mitte des Tisches wie eine Palme auf einer sturmumtosten Insel.
Bally Beene hatte ihn drei Wochen und einen Tag nach Mias Verschwinden angerufen, um ihm mitzuteilen, daß sie sich die ganze Zeit direkt vor seiner Nase herumtrieb. Auf alles war er gefaßt gewesen, als er den Anruf in der Station entgegennahm, auf eine Adresse irgendwo in der texanischen Prärie oder vielleicht in Bombay, doch Bally hatte nur gelacht. »Sie werden es mir kaum abnehmen. Aber sie wohnt in North Adams bei einer Familie im Zimmer über der Garage.« Gegen ein geringes Aufgeld hatte Bally auch einen Schlüssel für Cam beschaffen können.
Wenn man zügig fuhr, war North Adams nicht mehr als fünfzehn Minuten von Wheelock entfernt.
Cam erzählte Allie, er müßte an jenem Abend zu einer Zusammenkunft bezüglich eines neuen Anti-Drogenprogramms; er sei wahrscheinlich nicht zum Abendessen zurück. Eigentlich hatte er tagsüber arbeiten und dann nach North Adams fahren wollen. Doch als er auf einer Patrouillenfahrt einen Betrunkenen am Steuer angehalten hatte, war ihm plötzlich der Spruch entfallen, mit dem man einen Verhafteten über seine Rechte aufklärte – und den er normalerweise im Schlaf aufsagen konnte. Deshalb fuhr er schon nach dem Mittagessen, als er es nicht mehr hinter seinem Schreibtisch aushielt, zu Mias Adresse.
Er parkte seinen Wagen am Ende der Straße und starrte lange auf das Haus, in dem Mia drei Wochen lang ohne ihn hatte existieren können. Immer und immer wieder spielte er in Gedanken die Szene durch; wie sie die Tür öffnen und ihn davor sehen würde. Sie trug einen flauschigen weißen Morgenmantel und auf ihrem nassen Haar ein Handtuch; sie schlug die Hände an den Hals, als erblicke sie einen Geist. Dann flüsterte sie seinen Namen und beugte sich vor, um sich an ihn zu schmiegen.
Das Komische daran war, daß er sich nicht ausmalte, sofort mit ihr ins Bett zu springen. Er stellte sich vor, daß er mit ihr auf dem Boden sitzen würde, den Rücken in eine Ecke gelehnt, Mia zwischen seinen Beinen. Liebevoll würde er ihr das Handtuch vom Kopf ziehen und die Knoten aus ihrem Haar kämmen. In seiner Phantasie verwoben sich ihre Stimmen zu einem feinen Netz, das die hereinsinkende Nacht halten würde.
Als sich herausstellte, daß sie nicht zu Hause war, machte Cam es sich in Mias Apartment gemütlich. Er fuhr mit den Fingern über die vertraute knorrige Rinde des alten Bonsais und ließ Kafka um seine Beine streichen. Von einer geöffneten Dose Lachs gab er die Hälfte dem Kater und aß die andere Hälfte selbst. Er hätte gern ein Bier dazu gehabt, aber im Kühlschrank standen nur Senf und ein großer Krug Aloe-Vera-Saft; so begnügte er sich mit einem Glas Wasser.
Als er Mia die Treppe hochkommen hörte, hockte er mit Kafka auf seiner Schulter zusammengerollt im Dunkeln. Sie schloß die Tür auf, warf ihren Rucksack auf einen kleinen Tisch und knipste das Licht an. Als sie Cam sah, schossen ihre Hände an den Mund und flatterten dann wieder herab. Ihre Augen wurden schmal. »Raus aus meiner
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