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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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obwohl er gut zwanzig Zentimeter größer war als Roanoke, was den Arzt ein wenig nervös machte – wenn man sich ständig mit Geisteskranken abgab, die beim geringsten Anlaß durchdrehen konnten, mußte man schon allein anhand ihrer Größe auf der Hut bleiben.
    »Können Sie mir sagen, was am neunzehnten September geschehen ist?« fragte Roanoke. Er hob die dünne schwarze Armbanduhr an, so daß sich das LED-Display in seiner Brille spiegelte. Jetzt schaukelte Angela bestimmt in ihrem Drehstuhl hin und her, die Füße auf dem Schreibtisch, den Rock bis zum Oberschenkel hochgeschoben.
    »Ich habe meine Frau getötet«, antwortete Jamie. »Ich habe ihr ein Kissen auf das Gesicht gedrückt und sie erstickt, so, wie sie es gewollt hat.«
    Unwillkürlich beugte sich der Psychologe vor. »Bereuen Sie, daß Sie das getan haben?«
    Jamie gab ein Geräusch von sich, das verdächtig nach einem Schnauben klang; doch Roanoke wußte, daß es kein Schnauben war, keines sein konnte. Die Angeklagten waren sich immer bewußt, daß sie einen guten Eindruck auf den Staat machen mußten, und selbst die wahrhaft Verrückten verhielten sich entsprechend. »Bereuen?« wiederholte er. »Das ist ein bedeutungsschweres Wort, Doktor.«
    Roanoke tippte mit dem Finger auf den Konferenztisch. »Was bedeutet es für Sie?«
    »Wahrscheinlich dasselbe wie für jeden anderen, der Englisch spricht«, fuhr Jamie ihn an. »Bereue ich, daß ich Maggie getötet habe? Nein. Bereue ich, daß ich es tun mußte? Ja. Bereue ich, daß sie nicht mehr lebt? Mehr als Sie je begreifen könnten, indem Sie beschissene zehn Minuten auf mich verwenden.«
    Roanoke schwieg einen Augenblick. »Sie scheinen viel Zorn in sich zu tragen«, meinte er.
    Jamie lachte. »Für solch eine Diagnose haben Sie studiert?«
    Der Doktor schob die Papiere zurecht, die zusammengenommen die Akte James MacDonald ausmachten. Er wußte bereits, was er in seinen Bericht schreiben würde. Der Angeklagte verstand sich auszudrücken, verhielt sich abweisend und war bei klarem Verstand. Keinesfalls war er verhandlungsunfähig. Er begriff in vollem Umfang, was er vor drei Monaten seiner Frau angetan hatte.
    Und er zeigte keine Reue.
    Resigniert zog er den Moralstärketest hervor, den er mit allen Patienten anstellte, die ihm vom Staat geschickt wurden und auf ihr Verfahren warteten. Kohlberg hatte ihn ersonnen; er war in seinem Feld umstritten – wegen der Auswertung, bei der die Frauen angeblich benachteiligt wurden; doch Roanoke neigte dazu, seinen Patienten einfach nur zuzuhören und ihre Bedenken nicht in eine Skala einzuordnen. Bei dem Test ging es um eine hypothetische Situation: Jemand leidet an einer sehr seltenen und sehr schmerzhaften Krankheit. Die einzige Medizin, mit der diese Krankheit geheilt werden kann, befindet sich in einer Schweizer Apotheke, wohlverwahrt und verschlossen, und ist unsagbar teuer. Ohne diese Medizin wird der Kranke sterben. Würde man die Medizin stehlen?
    Die moralische Stärke des Patienten sollte anhand der Kriterien beurteilt werden, aufgrund derer er seine Entscheidung fällte. Manche weigerten sich standhaft, das Gesetz zu brechen. Andere meinten, man könne Ausnahmen machen. Wieder andere schlugen einen Handel mit dem Apothekenbesitzer vor.
    Doch dann versuchte man, die Antwort abzuändern, indem man dem Kranken einen Namen gab. Was war, wenn es sich nicht um einen Fremden, sondern um einen Freund handelte? Um das geliebte Haustier? Die Mutter?
    Roanoke räusperte sich. »Ich werde Ihnen jetzt eine hypothetische Situation schildern«, begann er. »Könnten Sie mir bitte mitteilen, was Sie unter den gegebenen Umständen täten.« Er hob das Papier, um die originale Situationsbeschreibung zu überfliegen, so wie Kohlberg sie erdacht hatte. »Ihre Frau«, las er, »leidet an einer seltenen und schmerzhaften Krankheit.«
    Er hielt inne, als er merkte, wie sich ein Schatten auf sein Papier legte. Jamie MacDonald stand in seiner ganzen Größe von 193 Zentimetern vor ihm und beendete auf diese Weise das Gespräch. »Verzeihen Sie mir«, sagte Jamie leise und wandte sich zur Tür, »aber ich glaube, das haben wir bereits abgehakt.«
    »Hat sie das als Witz gemeint?« fragte Graham. »Sie wissen schon, als Spaß, den man sich mit seiner besten Freundin erlaubt?«
    Er und Allie hatten sich in einer roten Plastiknische im Taco Bell -Restaurant von Cummington niedergelassen. Pauline Cioffi saß ihnen gegenüber. Sie war mit ihren Kindern gekommen und hatte sich

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