In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
dran«, redete Allie ihm gut zu. »Sie hätten sich doch nicht vor den kleinen Jungen drängeln wollen, oder?«
Eigentlich hätte Graham das nur zu gern gewollt, denn das hätte bedeutet, daß er und Allie nach drei Tagen strapazierender Befragungen in Cummington fertig waren. Er ließ seinen Blick über Allie MacDonald wandern. Sie war nur ein paar Jahre älter als er und besaß viele anziehende Eigenschaften. Erstens sah sie immer adrett angezogen aus, selbst wenn sie klobige L.-L.-Bean-Stiefel zu ihrer seidenen Hemdbluse trug, damit sie durch den Schnee und den Schlamm waten konnte. Zweitens eignete sie sich ausgezeichnet als Beifahrerin, wenn es darum ging, auf einer Straßenkarte nach Abkürzungen zu suchen. Und sie war bemerkenswert zäh!
»Der Herr Doktor hat jetzt Zeit für Sie.«
Bei diesen Worten schoß Graham hoch. Allie folgte ihm in das Arbeitszimmer, in dem sie schon vor über zwei Monaten mit Dr. Dascomb Wharton gesprochen hatte. Diesmal war er nicht beim Essen, doch sein unförmiger Leib schien über die Armlehnen seines Drehstuhls zu quellen wie geschlagener Hefeteig.
Graham streckte die Hand aus. »Guten Tag, Sir«, sagte er. »Ich bin Graham MacPhee, der Anwalt von James MacDonald.«
»Kommen Sie zur Sache«, knurrte Dr. Wharton. »Ich habe noch zu tun.« Er wühlte in ein paar Akten auf seinem Schreibtisch und schlug schwer seufzend eine davon auf. »Bevor Sie fragen, die Antwort lautet ja, ich werde aussagen, und was Sie wissen wollen, ist folgendes: Es handelte sich um ein Duktalkarzinom, das 1993 erstmals diagnostiziert wurde, obwohl sich die Metastasen vor dem Knoten in der Brust bemerkbar machten.« Er las seine Notizen vor, und sein riesiges Gesicht hob und senkte sich mit der Bewegung seiner Lippen, die ihnen detailliert Maggies Verfall schilderten.
Als der Arzt zum Ende gekommen war, rutschte Graham unruhig auf seinem Stuhl herum. »Hat Maggie MacDonald jemals die Bitte an Sie gerichtet, sie zu befreien?«
»Natürlich nicht.«
»Aber sie hat um Schmerzmittel gebeten? Und um eine Strahlenbehandlung?«
Der Arzt zog die Brauen zusammen. »Ich habe es ihr vorgeschlagen«, präzisierte er. »Das ist so üblich – in Fällen wie ihrem tut man, was man kann.«
»Dr. Wharton«, sagte Graham, »wie stehen Sie zur Euthanasie?«
»Ich habe den hippokratischen Eid abgelegt, Mr. MacPhee, und werde dem Leben jederzeit den Vorzug geben.«
Allie ließ ihren Blick über die Diplome an der Wand gleiten, während sie sich fragte, worauf Graham hinaus wollte. Er klang, als würde er für die Verhandlung proben, obwohl sie keinen Sinn darin sah, einen Zeugen der Verteidigung vor den Kopf zu stoßen.
»Sie haben noch nie einem älteren Patienten eine überhöhte Dosis Morphium verabreicht? Sie haben noch nie, nun, die Dinge beschleunigt?«
»Verzeihen Sie«, schnarrte der Arzt, »mir war nicht klar, daß ich hier unter Anklage stehe.«
Graham besaß den Anstand, rot zu werden. Allie fand es hübsch, wie die Röte von seinem Kragen aufwärts stieg bis zu seinen Ohren. Cam wurde niemals rot.
»Ich versuche nur nachzuvollziehen, was in Maggies Kopf vorging«, erläuterte Graham. »Warum sie sich für genau diese Methode und nicht für eine orthodoxere entschieden hat.«
»Ich kann mir nicht vorstellen, daß zu diesem Zeitpunkt ihr Kopf noch viel unternahm«, erwiderte Wharton. »Sie litt unter beträchtlichen Schmerzen; sie lebte mit dem Wissen, daß sie sterben würde – aber ohne irgendwelche Anhaltspunkte für das Wann.« Er hielt inne. »Da hat man nicht mehr viel Interesse an Erörterungen.«
»Maggie wußte, daß sie sterben würde?« fragte Graham.
Wharton sah ihn eigenartig an. »Ich würde doch meinen, das liegt auf der Hand.«
»Aber hat sie Ihnen jemals geradeheraus gesagt, sie wüßte es? Oder, wo wir gerade dabei sind, haben Sie ihr mitgeteilt, daß es in einer bestimmten Zeitspanne geschehen würde?«
Der Arzt setzte die Brille ab und begann, die Gläser an seinem weißen Kittel sauber zu reiben. »Wir haben bei unserer letzten Begegnung darüber gesprochen. Sie müssen wissen, daß ihr Körper allmählich Stück für Stück abschaltete. Und Sie können mir glauben, daß ich wirklich um jedes Leben kämpfe, bedingungslos – aber das bedeutet nicht, daß ich keine Abstufungen in der Lebensqualität erkennen kann. Ich habe Maggie damals wörtlich erklärt, daß niemand die Antwort wisse. Der Krebs würde wieder auftreten, aber wo und wann, könne niemand sagen. Es hätte an
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