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In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
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Nonkonformismus.
    Zu Weihnachten hatte Mia ihm die Welt geschenkt. Cam drehte den winzigen Globus in seinen Händen und zerknüllte nebenbei die Verpackung. Der Globus hatte keine Achse; er wurde durch eine eigenartige magnetische Kraft oder vielleicht durch Magie an seinem Platz gehalten.
    »Um deine geographischen Kenntnisse aufzufrischen«, sagte sie, brachte den Globus zum Kreiseln und bot ihm eine jener Lügen dar, die jedesmal gar nicht so unwahrscheinlich scheinen, wenn es Weihnachten wird. »Eines Tages ziehen wir los.«
    »Ein tolles Geschenk«, meinte er beglückt. Er gab ihr einen Kuß. »Perfekt.« Allie dagegen hatte ihm eine Gitarre geschenkt, auf der er nicht spielen konnte. Mia erfreute ihn nicht mit etwas, das sie sich wünschte; sie hatte sich in ihn hineinversetzt und ihm geschenkt, was er gern haben wollte. »Wo hast du den her?«
    Mia konnte sich das Lächeln nicht verkneifen. »Aus einem Katalog«, gestand sie. »Einem dieser Unternehmen, die Artikel für Leute führen, die schon alles haben.«
    »Ich habe nicht alles«, sagte Cam. Dich habe ich nicht.
    »Ach, ich weiß nicht.« Mia legte einen Arm um seine Taille. »Du hast alles, was den amerikanischen Traum ausmacht.«
    Cam ließ sich das durch den Kopf gehen. Das Haus, zwei Autos, einen Garten. Die Frau und die Schatten der Kinder, die eines Tages dazu kommen würden. Es ergab ein hübsches, farbenfrohes Bild, und doch war es beängstigend, sich vorzustellen, daß Mia dabei irgendwo außerhalb des Rahmens stand.
    »Ich wollte dir was besorgen, das du im Büro aufbewahren kannst«, sagte Mia leise, »das in deinen Schreibtisch paßt.«
    Cam schob ihr das Haar aus dem Gesicht. »Ich werde ihn nicht verstecken, sondern den ganzen Tag damit spielen.«
    Sie lagen bäuchlings auf dem Bett im Wheelock Inn, den Globus auf Armeslänge vor ihnen. Wie Blinde tasteten sie das Relief auf der Kugel ab, reisten über den Himalaya, durch die Sahara und das Mittelmeer.
    »Tja«, sagte Cam schließlich und zog einen Umschlag aus seinerBrusttasche. »Meins ist längst nicht so exotisch. Aber trotzdem frohe Weihnachten!«
    Mia riß den Umschlag auf. Darin lag eine sorgfältig handgeschriebene Broschüre über das Braebury House, eine Pension in den White Mountains von New Hampshire. Das Haar fiel ihr über das Gesicht, als sie sich aufsetzte, um die Fotos von einem Lehnstuhl vor einem prasselnden Kaminfeuer, einem Himmelbett, einem gemütlichen Gewirr von Antiquitäten zu betrachten.
    »Das Wochenende in vierzehn Tagen«, flehte Cam sie an. »Ich werde behaupten, ich müßte auf ein Training nach New Braintree. Und deine Tante könnte nochmal krank werden.«
    Mia stellte sich vor, Cam ein ganzes Wochenende für sich allein zu haben, an einem Ort, wo niemand sie als die Andere erkennen oder ihn identifizieren würde. Sie versuchte sich auszumalen, wie ihre Eltern Teil eines Zweigespanns zu sein, so eng mit ihm zusammen, daß sie füreinander denken konnten. Sie stellte sich vor, wie es wohl wäre, nicht als fünftes Rad am Wagen herumzuirren.
    Er drückte ihr einen Kuß auf den Hals, als würde er glauben, daß sie noch unschlüssig wäre; als könnte sie dieses Geschenk wirklich ausschlagen. »Bitte«, flüsterte Cam. »Laß es uns noch einmal versuchen!«
    In Wheelock feierte man Weihnachten weniger ausgiebig als das nachfolgende Hogmanay, im übrigen Massachusetts als Silvester bekannt. Wie in Schottland soffen sich die meisten Einheimischen hemmungslos voll. Nach Mitternacht machten sich die Nachbarn zu Fuß auf, um sich gegenseitig ein gutes neues Jahr zu wünschen, mit Keksen, Weinflaschen oder edlem Whiskey im Gepäck.
    Da Cam an Silvester immer arbeitete, war es für Allie im Grunde eine Nacht wie jede andere, abgesehen von dem Lärm draußen – die trunkenen, disharmonischen Darbietungen von ›Auld Lang Syne‹ und das Fauchen und Knallen der von Teenagern auf den nassen, kalten Straßen gezündeten Kracher waren nur schwer zu überhören. Sie hatte Angus und Jamie überreden wollen, bei ihr zu Hause im Fernsehen die Übertragung der Jahreswende vom Times Square anzuschauen; doch Angus hatte nur gegrunzt und gemeint, wenn ihm noch ein Jahr vergönnt sei, dann würde er es verdammt nochmal damit einleiten, indem er sich gründlich ausschlief.
    Jamie – tja, Jamie war einfach nicht nach Feiern zumute gewesen. »Dann komm einfach nach zwölf vorbei«, hatte sie gesagt. »Man sagt, der beste Neujahrsbesuch sei ein großer Mann mit schönem Haar, der jede

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