In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)
Weg zu Onkel Angus in Schottland befunden hatte. Er sah Mia an, die sich umgedreht hatte, und stellte sich vor, wie sie wohl vor fast zehn Jahren ausgesehen haben mochte: mit langer lockiger Mähne, einer weißen Kellnerinnenschürze um die gertenschlanke Taille, und wie ihre Stimme erklang: Cosa desidera? Er malte sich aus, wie sie sich nach allen Seiten umblickte, um festzustellen, ob sie beobachtet wurde, und sich dann auf der Terrakottamauer niederließ, wo sie die Schuhe von den Füßen streifte, einen nach dem anderen, um sich die Zehen zu massieren.
Und dann dachte er, daß es der größte Fehler seines Lebens gewesen war, nicht in der Hand des Teufels einzukehren.
»Wenn ich es nicht besser wüßte«, murmelte er, »könnte ich auf die Idee kommen, du hättest mich verfolgt.« Er rieb sich mit der Hand übers Kinn. »Ich war dort.«
Mia verschränkte die Arme über der Brust. »Wo?«
»1986 in Venedig. Auf der Rialtobrücke. Ich habe das Café gesehen.«
Mia spürte einen Schweißtropfen zwischen ihren Schulterblättern hinabrinnen. »Beweise es«, forderte sie ihn auf.
Gern war sie nicht Kellnerin gewesen; aber sie mußte jobben auf ihrer Großen Reise, auf der sie in jedem Land, das zu erforschen sie sich vornahm, ein paar Wochen oder einen Monat lang gearbeitet hatte. Trotzdem war die Hand des Teufels weniger schlimm gewesen als manch anderer Broterwerb: der als Lastwagendispatcherin für die Nachtschicht in Sydney, der als Klofrau im Schloß von Schönbrunn – das war wirklich anstrengend gewesen. Sie erinnerte sich noch, wie sie in Venedig die Cafégäste beobachtet und geraten hatte, wer davon das meiste Trinkgeld geben würde. Der alte Mann mit dem langen weißen Haar wie Benjamin Franklin? Die beiden Verliebten, die sich jeweils ein Herz ins Haar geschoren hatten? Der Pakistani mit dem funkelnden blauen Juwel im Turban? Sie erinnerte sich an die metallenen Liremünzen, die wie Spuren zum Punktenachmalen über die tieflila Tischdecken und Rokoko-Speisekarten verstreut lagen. Sie sammelte alle ein und stopfte sie in ihre Stoffschürze, wo sie den ganzen Tag bei jeder Bewegung ihre Melodie klimperten.
Mindestens einmal während jeder Schicht blickte sie zur Rialtobrücke hinüber und wünschte sich etwas, so wie sie es sich zur Angewohnheit gemacht hatte. Sie hatte sich Geld, ein Abenteuer und Liebe gewünscht. Ihre Wünsche heftete sie an die Fußgänger auf der Brücke, in dem Glauben, daß sich erstere schneller erfüllten, wenn jemand sie im Vorübergehen ahnungslos aufgriff.
Nie hatte sie den Menschen, denen sie ihre Wünsche anvertraute, ins Gesicht geblickt; schließlich waren es nur Boten.
Vielleicht war das der größte Fehler ihres Lebens gewesen.
Blitzartig fiel ihr der Augenblick vor wenigen Tagen ein, als Cam ihr das Bild von Carrymuir aus der Hand nahm. Ihr kam wieder der Schatten ins Gedächtnis, der über sein Gesicht gezogen war vor lauter Mißtrauen, daß ihre gemeinsame Geschichte schon lange vor ihrer ersten Begegnung begonnen haben sollte. Sie stellte sich vor, wie er auf der Rialtobrücke gestanden hatte und sein Haar geglänzt hatte wie die Liremünzen in ihrer Schürze – sie reckte das Kinn höher. »Beweise es«, wiederholte sie.
Cam schien es unbegreiflich, daß er sich damals, ohne es zu wissen, in Sichtweite von Mia Townsend befunden hatte. Beweise? Er hätte ihr von den violetten Tischdecken und den herzförmigen Lehnen der schmiedeeisernen Stühle erzählen können; doch wie Mia vor wenigen Tagen erklärte, hätte er all das auch von einer Postkarte haben können. »Ich wollte in das Café gehen«, sagte er nur, »aber mußte zum Bahnhof.« Er verlagerte sein Gewicht. »Was hast du in einem Café in Venedig gemacht?«
Auf dich gewartet. Die Worte lagen ihr auf den Lippen; sie legte die Hand auf den Mund, um sie zurückzuhalten. Dann stopfte sie mit einem brüchigen Lächeln die Fäuste in die Manteltaschen. »Also«, überging sie fröhlich seine Frage, »so ein Zufall! Das müssen wir unbedingt Allie erzählen.«
Allies Namen zu erwähnen, erleichterte sie ein wenig; sie konnte wieder atmen, und ihre Haut fühlte sich nicht mehr so heiß an. Cam nickte, lächelte ebenfalls und trat einen Schritt zurück. Er wünschte ihr einen schönen Tag.
Mia sah ihn zu seiner Dienststelle davongehen. Dann machte sie kehrt und rannte die Straße hinunter. Doch statt den Blumenladen zu betreten, wo Allie auf sie wartete, floh sie zurück in ihr Zimmer im Wheelock Inn. Sie
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