Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition)

Titel: In einer regnerischen Nacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jodi Picoult
Vom Netzwerk:
verspeiste er gerade eine Calzone, deren Stücke er in regelmäßigen Intervallen in eine kleine Schüssel mit Tomatensoße tunkte. »Setzen Sie sich, setzen Sie sich«, bellte er. »Es stört Sie hoffentlich nicht, wenn ich Mittagspause mache, während wir plaudern?«
    Allie schüttelte den Kopf. Noch nie hatte sie einen derart dicken Menschen gesehen, abgesehen natürlich von den furchtbar traurigen Fällen in Oprah Winfreys Talkshow; es war wohl nur eine Frage der Zeit, wann der spindelbeinige Stuhl unter dem Hintern des Mannes einfach zusammenkrachte. Der Arzt wischte sich den Mund mit einer Serviette ab und lächelte sie an.
    Wieso hast du so große Zähne? dachte Allie. Sie lächelte zurück.
    »Was kann ich für Sie tun, Mrs. MacDonald?«
    Allie zog ein Polaroidfoto von Jamie aus dem Seitenfach ihrer Handtasche, unglückseligerweise kein gutes Bild; tatsächlich hatte Cam es ihr leihweise aus der Polizeiakte mit der Abschrift des Verhaftungsprotokolls überlassen. »Ich komme wegen dieses Mannes«, sagte sie und reichte dem Arzt das Foto. »Kennen Sie ihn?«
    Dr. Wharton kniff die Lippen zusammen. »Natürlich kenne ich Jamie. Aber Maggie kenne ich besser, schließlich bin ich ihr Arzt.«
    »War«, korrigierte ihn Allie, ohne zu überlegen. Der Arzt starrte sie an. »Sie … ist vor ein paar Tagen gestorben.«
    »Oh!« Dr. Wharton blieb der Bissen im Mund stecken. »Also, tja, das mußte ja kommen.«
    Allie stopfte das Foto zurück in ihre Handtasche. »Sie war wohl sehr krank?«
    Dr. Wharton beugte sich vor. »Meine Liebe, ich habe ein Arztgeheimnis zu wahren.«
    Allie nickte, darauf war sie gefaßt gewesen. Sie zog einen Brief von Graham MacPhee hervor, auf dem offiziellen Briefbogen der Kanzlei gedruckt, und reichte ihn wortlos hinüber. »Ich verstehe«, sagte er, nachdem er die paar Zeilen überflogen hatte. »Jamie hat es also getan.«
    ›Wir waren noch nicht offiziell vor Gericht.« Sie schlug die Beine übereinander. »Deshalb bin ich nach Cummington gekommen. Ich bin auf der Suche nach Menschen, die Maggie und Jamie kannten und die der Meinung sind, daß man eine solche Anklage nicht aufrechterhalten kann.«
    Dr. Wharton stopfte sich die Reste seiner Calzone in den Mund und streckte einen Finger hoch. Nachdem er geschluckt hatte, ließ er sich in seinen Stuhl zurücksinken und brachte ihn damit um ein Haar zum Kippen. »Ich werde Ihnen und jedem Gericht, das mich unter Strafandrohung vorlädt, folgendes erklären: Maggie MacDonald hätte meiner Meinung nach dieses Jahr nicht überlebt. Der Brustkrebs, der vor zwei Jahren bei ihr diagnostiziert wurde, war in ihre Knochen und schließlich in ihr Gehirn metastasiert. Er hat weder auf Chemotherapie noch auf Bestrahlung reagiert, und das letzte Mal kam sie zur Behandlung, weil der Tumor den Sehnerv angegriffen hatte.« Er hielt inne, als wollte er Allies Auffassungsvermögen testen. »Das Auge«, erläuterte er.
    »Was für ein Tumor war es anfangs?« erkundigte Allie sich.
    »Ein duktales Mammakarzinom«, gab Wharton Auskunft. Er klopfte mit den Fingern auf die Tischplatte.
    Allie senkte den Blick, bevor sie die nächste Frage stellte. Sie sah Maggie auf dem Einbalsamierungstisch im Bestattungsinstitut liegen, die Knie grotesk in die Luft gestreckt. »Hatte sie starke Schmerzen?«
    Der Doktor gab ein eigenartiges nasales Geräusch von sich. »Nun ja, Schmerz ist etwas Relatives. Manche Frauen können zum Beispiel eine Geburt durchatmen, andere wären dabei am liebsten bewußtlos.«
    ›Wir reden hier nicht übers Kinderkriegen«, protestierte Allie.
    »Nein«, stimmte Dr. Wharton ihr zu. »Allerdings nicht.« Er legte die Finger aneinander und ließ sein Kinn darauf ruhen. »Ich glaube, Maggie MacDonald litt Schmerzen, ja«, räumte er ein.
    »Aber …«, hakte Allie nach, die den Zweifel in seinem Tonfall gehört hatte.
    »Aber ich glaube nicht, daß dies das Schlimmste für sie war.« Allie zog die Brauen hoch, und Dr. Wharton lächelte so lieblich, daß alle Wülste in seinem Gesicht Grübchen bekamen und sich übereinander falteten, bis er wie ein ganz anderer Mensch aussah. »Am meisten machte Maggie zu schaffen, daß sie Jamie zurücklassen würde.«
    Jeder, der sich gewundert hätte, warum der Blumenladen so spät am Abend noch geöffnet war, hätte vermutet, daß Allie an Hochzeitsschmuck arbeitete. Manchmal brauchte es zwei oder drei Tage, bis alle Blumen in einem Brautstrauß verdrahtet waren, und Allie blieb oft bis zur Geisterstunde

Weitere Kostenlose Bücher