In einer Winternacht
Kopfschmerzen.
Sie stand auf und schlüpfte teilnahmslos in ihren Jogginganzug. Vielleicht bekomme ich beim Laufen einen klaren Kopf, überlegte sie. Ich muß mich heute aufs Üben konzentrieren. Ich habe soviel falsch gemacht und darf auf keinen Fall das Konzert verpatzen und Großvater enttäuschen.
Sie hatte sich vorgenommen, heute im Central Park zu joggen, doch als sie das nördliche Ende des Parks erreichte, trugen sie ihre Füße automatisch nach Westen. Ein paar Minuten später stand sie auf der Straße gegenüber von St. Clement und erinnerte sich wieder an den Augenblick, als sie ihr Baby zum letztenmal in den Armen gehalten hatte.
Es war ein wenig wärmer geworden. Viele Passanten waren unterwegs, und sie wußte, daß sie Aufmerksamkeit erregen würde, wenn sie nicht weiterging. Der blendend weiße Schnee vom Donnerstag war inzwischen fast völlig geschmolzen, die Reste waren schwarz von Ruß.
Die Nacht war sehr kalt, dachte sie. Und der Schnee auf den Gehwegen war spiegelglatt gefroren. Der gebrauchte Kinderwagen hatte einen Fleck an der Seite. Ich habe ihn zwar gründlich geschrubbt, aber er war so abgenützt, daß ich das Kind am liebsten gar nicht hineingelegt hätte. Jemand im Hotel hatte eine Einkaufstüte weggeworfen, die ich als Kälteschutz benutzte. Ich weiß noch, daß der Firmenname Sloane’s daraufgedruckt war. Die Fläschchen und die Babynahrung habe ich im Drogeriemarkt Duane Reade gekauft.
Sondra spürte, daß jemand ihr auf die Schulter tippte. Erschrocken drehte sie sich um und sah in das besorgte Gesicht einer molligen, rothaarigen, etwa sechzigjährigen Frau. »Sie brauchen Hilfe, Sondra«, sagte Alvirah sanft. »Und ich werde Ihnen helfen.«
Sie fuhren mit dem Taxi zurück zum Central Park South. Oben in der Wohnung brühte Alvirah Tee auf und toastete Brot. »Ich wette, Sie haben heute noch nichts gegessen«, meinte sie.
Sondra, die wieder einmal den Tränen nahe war, nickte nur. Sie fühlte sich gleichzeitig erleichtert und wie in einem Traum. Die unbekannte Wohnung und die fremde Frau vermittelten ihr Geborgenheit.
Sie wußte, daß sie Alvirah Meehan von dem Baby erzählen würde. Denn Alvirah machte auf sie den Eindruck, als würde sie ganz sicher einen Weg finden, ihr zu helfen.
»Jetzt hören Sie mir gut zu«, sagte Alvirah zwanzig Minuten später. »Zuerst müssen Sie Schluß mit den Selbstvorwürfen machen. Es ist vor sieben Jahren passiert, sie waren selbst fast noch ein Kind. Sie hatten keine Mutter. Sie fühlten sich für ihren Großvater verantwortlich. Sie haben das Baby ganz alleine zur Welt gebracht und alles gut geplant. Sie haben Kleider, Babynahrung und Fläschchen besorgt und jeden Penny gespart, um das Kind in New York zu bekommen, weil sie eines Tages dort leben wollten. Sie haben das Kind angezogen und es warm eingemummelt in einem Kinderwagen auf die Treppe eines Pfarrhauses gestellt. Sie haben sich die Kirche ausgesucht, in der Ihr Großvater Trost fand, als er erkennen mußte, daß seine Karriere als Geiger wegen seiner Arthritis vorbei war. Weniger als fünf Minuten später haben Sie im Pfarrhaus angerufen und dann angenommen, das Baby sei bereits entdeckt worden.«
»Ja«, sagte Sondra. »Aber was ist, wenn ein paar Jugendliche den Kinderwagen aus Jux gestohlen haben? Dann ist das Baby vielleicht erfroren, und derjenige, der es gefunden hat, wollte nicht in die Sache hineingezogen werden… Und was wäre…«
»Was wäre, wenn gute Menschen sie mitgenommen haben und jetzt sehr glücklich mit ihr sind?« sagte Alvirah im Brustton der Überzeugung, obwohl sie sich gar nicht so sicher war. Gute Menschen hätten die Polizei verständigt und dann einen Antrag auf Adoption gestellt, dachte sie. Sie hätten nicht all die Jahre geschwiegen.
»Mehr darf ich nicht verlangen«, meinte Sondra. »Mehr verdiene ich nicht, denn ich weiß einfach nicht…«
»Sie verdienen viel mehr, als Sie glauben. Machen Sie sich nicht so klein«, tadelte Alvirah. »Und nachher gehen Sie Geige üben, damit Sie den Musikliebhabern in New York eine Freude bereiten können. Die Lösung des Rätsels überlassen Sie mir.« Und dann fügte sie spontan hinzu: »Sondra, wissen Sie, wie hübsch Sie sind, wenn Sie lächeln? Sie müssen das viel öfter tun, einverstanden?«
Sie schenkte Sondra noch eine Tasse Tee ein und entlockte ihr ihre ganze Geschichte.
»Können Sie sich vorstellen, welche Belastung es für meinen Großvater war? Er lebte allein, schlug sich als Musikkritiker und
Weitere Kostenlose Bücher