In einer Winternacht
Geigenlehrer durch, und dann mußte er sich plötzlich um ein zehnjähriges Kind kümmern.« Ein Lächeln spielte um Sondras Lippen. »Er hatte eine hübsche Vier-Zimmer-Wohnung in einem schönen Haus am Lake Michigan in Chicago. Aber die Zimmer waren ziemlich eng, und etwas Größeres konnte er sich nicht leisten.«
»Was tat er, als Sie zu ihm zogen?« fragte Alvirah.
»Er hat meinetwegen sein ganzes Leben geändert. Er hat in seinem Arbeitszimmer geschlafen und mir sein Schlafzimmer gegeben. Wenn er aus dem Haus mußte, bezahlte er eine Frau, die auf mich aufpaßte und mir das Essen kochte. Ich muß hinzufügen, daß Großvater gerne ausging und sich zum Abendessen mit seinen Freunden traf. Und natürlich besuchte er viele Konzerte. Meinetwegen hat er viele liebe Gewohnheiten aufgegeben.«
»Sie machen sich schon wieder klein«, unterbrach sie Alvirah. »Ich wette, er war einsam, bevor Sie zu ihm zogen. Sicher fand er es schön, Sie bei sich zu haben.«
Sondras Lächeln wurde breiter. »Kann sein, aber mit seiner Freiheit, zu kommen und zu gehen, wann es ihm paßte, und auch mit den kleinen Freuden des Alltags war es vorbei.« Das Lächeln verschwand. »Aber ich glaube, ich habe ihn dafür in gewisser Weise entschädigt. Ich bin eine gute Musikerin, eine gute Geigerin.«
»Genau!« meinte Alvirah. »Endlich sagen Sie einmal etwas Positives über sich selbst.«
Sondra lachte. »Wissen Sie, Alvirah, Sie können gut mit Worten umgehen.«
»Das meint mein Redakteur auch immer«, stimmte Alvirah zu. »Langsam verstehe ich. Sie fühlten sich verpflichtet, Erfolg zu haben. Sie haben ein Stipendium bekommen. Sie waren erst achtzehn, als sie einen attraktiven, begabten Mann kennenlernten und sich in ihn verliebten. Wahrscheinlich hat er ihnen gesagt, er sei verrückt nach Ihnen, und Sie, seien Sie doch mal ehrlich, waren sehr leicht herumzukriegen. Sie hatten weder Eltern noch Geschwister, sondern nur einen Großvater, dessen Gesundheit nachließ. Habe ich es bis jetzt richtig dargestellt?«
»Ja.«
»Den Rest kennen wir. Befassen wir uns also mit der Gegenwart. Eine so hübsche und begabte Frau wie Sie lebt doch sicher nicht wie auf einer einsamen Insel. Haben Sie einen Freund?«
»Nein.«
»Das war zu schnell, Sondra. Und das bedeutet, daß Sie bestimmt einen haben. Wer ist es?«
Eine lange Pause entstand. »Gary Willis. Er gehört dem Verwaltungsrat des Chicagoer Symphonieorchesters an«, erwiderte Sondra schließlich zögernd. »Er ist vierunddreißig, acht Jahre älter als ich, sehr erfolgreich, sehr gutaussehend, sehr nett, und er möchte mich heiraten.«
»So weit, so gut«, stellte Alvirah fest. »Und Sie haben nichts für ihn übrig?«
»Eigentlich schon. Ich bin nur noch nicht bereit für eine Ehe. Im Augenblick fühle ich mich, als würde ich den Verstand verlieren. Und wenn ich trotzdem heirate, würde ich immer, wenn ich mein nächstes Kind ansehe, daran denken, daß ich seine Schwester in einer Papiertüte draußen in der Kälte ausgesetzt habe. Gary hat viel Geduld mit mir und ist sehr verständnisvoll. Sie werden ihn sicher kennenlernen. Er kommt mit meinem Großvater zum Konzert.«
»Ich glaube, er gefällt mir jetzt schon«, meinte Alvirah. »Und vergessen Sie nicht, daß es die meisten Frauen heutzutage schaffen, Ehe, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren. Ich habe es jedenfalls getan.«
Sandra blickte sich in der geschmackvoll eingerichteten Wohnung um und genoß die malerische Aussicht auf den Central Park. »Was machen Sie denn beruflich, Alvirah?«
»Zur Zeit bin ich Lottogewinnerin, Problemlöserin und Kolumnistin beim New York Globe. Bis vor zwei Jahren war ich eine ausgezeichnete Putzfrau.«
Sondra kicherte. Offenbar war sie nicht sicher, ob sie Alvirahs Worte ernst nehmen oder als Witz verstehen sollte. Doch Alvirah sparte sich eine weitere Erklärung. Meine Lebensgeschichte kann ich auch noch später erzählen, dachte sie.
Die beiden standen auf. »Ich muß zur Probe«, sagte Sondra. »Heute kommt ein Lehrer, dem der Ruf vorauseilt, daß er Konzertmusiker wie mich gern zur Schnecke macht.«
»Dann müssen Sie ihr Bestes geben«, meinte Alvirah. »Ich werde inzwischen überlegen, wie wir Ihr Baby finden, ohne daß uns jemand auf die Schliche kommt. Ich verspreche, Sie jeden Tag anzurufen.«
»Alvirah, Großvater und Gary treffen eine Woche vor dem Konzert ein. Sicher will Großvater St. Clement besuchen. Es wird ihn sehr traurig machen, daß Bischof Santoris Kelch verschwunden ist.
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