In eisige Höhen
ebensowenig, sich an den schwierigen Schieferplatten hinabzulassen. Seine Sherpas setzten also den Taiwanesen neben Lopsang und Fischer und stiegen dann ohne ihn weiter ab.
»Ich bleib eine Stunde bei Scott und Makalu, vielleicht länger«, erzählt Lopsang. »Mir ist sehr kalt, bin sehr erschöpft. Scott sagt mir: ›Du gehst nach unten, schickst Anatoli hoch.‹ Ich sage dann: ›O.k., ich geh runter, schick sofort Sherpa und Anatoli hoch.‹ Dann mache ich für Scott guten Platz zum Sitzen und geh runter.«
Lopsang ließ Fischer und Gau etwa 400 Meter über dem Südsattel auf dem Felsgesims zurück und kämpfte sich durch den Schneesturm nach unten. Da er kaum sehen konnte, kam er weit nach Westen von der Route ab. Unterhalb der Höhe des Südsattels bemerkte er schließlich seinen Irrtum und mußte nun über den Nordrand der Lhotse-Flanke 35 zurückklettern, um zu den Zelten zu gelangen. Gegen Mitternacht hatte er es jedoch ins schützende Lager geschafft. »Ich geh zu Anatoli-Zelt«, berichtet Lopsang. »Ich sag Anatoli: ›Bitte, du gehst hoch, Scott ganz schlecht, er kann nicht laufen.‹ Dann ich geh in mein Zelt und gleich einschlafen wie ein Toter.«
Guy Cotter, ein langjähriger Freund sowohl von Hall als auch von Harris, hielt sich am Nachmittag des 10. Mai zufällig nur ein paar Meilen vom Basislager entfernt auf. Er hatte eine Expedition auf den Pumori geleitet und über den ganzen Tag hinweg Halls Funksprüche mitgehört. Um 14 Uhr 15 sprach er mit Hall auf dem Gipfel, und alles schien in bester Ordnung. Um 16 Uhr 30 und 16 Uhr 41 gab Hall Funksprüche nach unten durch, um mitzuteilen, daß Doug der Sauerstoff ausgegangen war und er sich nicht mehr allein fortbewegen konnte. Cotter war zutiefst beunruhigt. Um 16 Uhr 53 funkte er Hall an und bat ihn eindringlich, zum Südgipfel abzusteigen. »Ich habe ihn vor allem deshalb angerufen, um ihn dazu zu bringen, runterzukommen und sich Sauerstoff zu holen«, erzählt Cotter, »denn uns war gleich klar, daß er für Doug ohne Sauerstoff nichts tun kann.
Rob hat gesagt, daß er es allein schon noch nach unten schaffen würde, aber nicht mit Doug.« 40 Minuten später befand sich Hall jedoch immer noch mit Hansen oben auf der Hillary-Stufe, ohne irgendwie voranzukommen. Als Hall sich um 17 Uhr 36 und erneut um 17 Uhr 57 über Funk meldete, beschwor Cotter seinen Kameraden, Hansen zurückzulassen und alleine herunterzukommen. »Ich weiß, ich klinge wie ein Schwein, daß ich Rob sage, er soll seinen Kunden im Stich lassen«, räumt Cotter ein, »aber zu dem Zeitpunkt lag es einfach auf der Hand, daß Rob nur eine Chance hat, wenn er Doug zurückläßt.« Hall lehnte es jedoch ab, ohne Doug abzusteigen.
Hall ließ erst spät in der Nacht wieder von sich hören. Um 2 Uhr 46 erwachte Cotter in seinem Zelt am Fuß des Pumori und hörte eine lange, immer wieder unterbrochene Funkübertragung mit, die wahrscheinlich unbeabsichtigt war: Hall trug am Schulterriemen seines Rucksacks ein externes, kabelloses Mikrofon, das manchmal unbeabsichtigt eingeschaltet war. In diesem Fall, so Cotter, »glaube ich nicht einmal, daß er gewußt hat, daß wir ihn hören. Ich habe irgend jemand rufen gehört – es könnte Rob gewesen sein, aber ich bin mir nicht sicher gewesen, weil die Hintergrundgeräusche vom Wind so laut waren. Aber er hat so was gesagt wie: ›Geh weiter! Geh weiter!‹, wahrscheinlich zu Doug, den er angetrieben hat.«
Falls dies zutrifft, hieße das, daß Hall und Hansen – vielleicht zusammen mit Harris – sich in tiefer Nacht und bei orkanartigem Sturm immer noch von der Hillary-Stufe Richtung Südgipfel kämpften. Und falls dem so ist, hieße dies ebenfalls, daß sie für einen Abschnitt im Berggrat, der von Bergsteigern normalerweise in weniger als einer halben Stunde zurückgelegt wird, mehr als zehn Stunden brauchten.
Natürlich ist all dies reine Spekulation. Sicher ist nur, daß Hall sich um 17 Uhr 57 über Funk meldete. Und da befanden er und Hansen sich noch immer auf der Hillary-Stufe; und um 4 Uhr 43 am Morgen des 11. Mai, als er das nächste Mal mit dem Basislager in Verbindung trat, war er zum Südgipfel hinabgestiegen. Zu dem Zeitpunkt waren weder Hansen noch Harris bei ihm.
Rob klang in den mehreren, über die nächsten zwei Stunden verteilten Funkrufen beunruhigend wirr und durcheinander. Um 4 Uhr 43 sagte er Caroline Mackenzie, unserer Basislagerärztin, daß seine Beine es nicht mehr machten: und daß [mir] »jede Bewegung zu
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