In eisige Höhen
noch hier. Und ich hab gedacht, er ist in der Nacht vorausgegangen. Hört mal, wißt ihr nun, wo er ist, oder nicht?« Helen Wilton versuchte der Frage auszuweichen, aber Rob bohrte weiter und ließ sich nicht vom Thema abbringen: »O.k., ich meine, sein Eispickel ist hier und seine Jacke und so weiter.« – »Rob«, schaltete sich Ed Viesturs auf Camp Zwei ein, »wenn du seine Jacke anziehen kannst, dann tu's. Geh weiter nach unten und denk jetzt nur an dich selbst. Um die anderen kümmern wir uns schon. Sieh einfach nur zu, wie du nach unten kommst.«
Nachdem Hall sich vier Stunden lang damit abgeplackt hatte, seine Maske zu enteisen, funktionierte sie endlich wieder, und um 9 Uhr atmete er zum ersten Mal wieder zusätzlichen Sauerstoff. Da hatte er allerdings bereits über sechzehn Stunden in Höhen von über 8750 Metern ohne Flaschenluft verbracht. Tausende Meter weiter unten ließen seine Freunde nichts unversucht, ihn zum Abstieg zu bewegen. »Rob, hier spricht Helen Wilton vom Basislager«, meldete sich Wilton hartnäckig. Sie klang, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. »Du denkst jetzt an dein kleines Baby. In nur ein paar Monaten schaust du ihm ins Gesicht, also geh jetzt weiter.«
Mehrere Male kündigte Rob an, daß er sich bereitmachte, abzusteigen, und einmal waren wir fest davon überzeugt, daß er den Südgipfel verlassen hatte. Als ich draußen in der Kälte bibbernd mit Lhakpa Chhiri vor den Zelten auf Camp Vier stand, erspähten wir einen winzigen Fleck, der sich langsam am oberen Südgrat hinunter schob. In der Überzeugung, daß dies Rob sein mußte, der endlich herunterkam, klopften Lhakpa und ich uns auf den Rücken und feuerten ihn an. Eine Stunde später jedoch wurde mein Optimismus bereits wieder zunichte gemacht. Der Fleck war immer noch an Ort und Stelle: Es war nur ein Felsen, mehr nicht – eine weitere, auf Sauerstoffmangel beruhende Halluzination. In Wahrheit hatte Rob den Südgipfel nie verlassen.
Gegen 9 Uhr 30 brachen Ang Dorje und Lhakpa Chiri mit einer Thermosflasche heißen Tee und zwei zusätzlichen Flaschen Sauerstoff Richtung Südgipfel auf, um Hall zu bergen. Sie sahen sich einer enorm schwierigen Aufgabe gegenüber. So erstaunlich und mutig Boukreevs Bergung von Pittman und Fox in der Nacht zuvor gewesen war, sie verblaßte im Vergleich zu dem, was die beiden Sherpas sich nun vornahmen. Pittman und Fox waren nur einen 20 Minuten langen Marsch durch flaches Gelände von den Zelten entfernt gewesen; Hall befand sich 500 Höhenmeter oberhalb von Camp Vier – eine aufreibende fünf, sechs Stunden lange Klettertour bei besten Bedingungen.
Und dies waren gewiß nicht die besten Bedingungen. Der Wind blies mit über achtzig Stundenkilometern. Sowohl Ang Dorje als auch Lhakpa hatte der Gipfelangriff vom Vortag unterkühlt und erschöpft zurückgelassen. Sie konnten Hall frühestens am späten Nachmittag erreichen, falls es ihnen überhaupt gelang, zu ihm vorzustoßen. Damit blieben ihnen für die viel schwierigere Bergung nur ein, zwei Stunden Tageslicht. Sie waren Hall jedoch treu ergeben, ignorierten einfach die Tatsache, daß fast alles gegen sie sprach, und kletterten so schnell sie konnten Richtung Südgipfel.
Kurz danach machten sich zwei Sherpas des Mountain-Madness-Teams – Tashi Tshering und Ngawang Sya Kya (Lopsangs Vater, ein kleiner, zierlicher Mann mit ergrauenden Schläfen) und ein Sherpa aus dem taiwanesischen Team auf den Weg nach oben, um Scott Fischer und Makalu Gau vom Berg zu holen. 400 Meter oberhalb des Südsattels fanden die drei Sherpas die völlig ausgezehrten Bergsteiger auf der Felsleiste, auf der Lopsang sie zurückgelassen hatte. Sie versuchten, Fischer Sauerstoff zuzuführen, aber er reagierte kaum noch. Scott atmete zwar noch leicht, aber seine Augen waren in ihren Höhlen erstarrt, die Zähne fest zusammengebissen. Sie folgerten daraus, daß für ihn keine Hoffnung mehr bestand, und ließen ihn auf der Leiste zurück. Dann begannen die drei Sherpas den Abstieg mit Gau, dem sie heißen Tee und Sauerstoff gegeben hatten. Der Taiwanese mußte zwar ans Kurzseil genommen werden, schaffte es aber dennoch aus eigener Kraft zu den Zelten zurück.
Der Tag hatte mit sonnigem, klarem Wetter begonnen, aber der Wind blies mit unverminderter Heftigkeit, und am Vormittag war der obere Teil des Berges bereits wieder wolkenverhüllt. Unten auf Camp Zwei vermeldete das IMAX-Team, daß die Winde über dem Gipfel wie ein 747-Geschwader klangen,
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