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In eisige Höhen

Titel: In eisige Höhen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jon Krakauer
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Unterschlupf.
    Ich zeigte in Richtung Camp Vier und warnte ihn gleich darauf vor dem Eishang unter uns. »Ist steiler, als es aussieht!« rief ich aus voller Kehle, um gegen den Wind anzukommen. »Vielleicht sollte ich zuerst gehen und drüben im Lager ein Seil holen-« Ich hatte den Satz noch nicht zu Ende gesprochen, als Andy sich unvermittelt abwandte und über den Rand des Eishangs trat. Ich hockte völlig verblüfft da.
    Mit dem Hintern auf dem Eis fegte er die ersten Meter des Abhangs hinunter, das steilste Stück überhaupt. »Andy!« rief ich ihm hinterher. »Du bist verrückt, es so zu versuchen! Das geht schief!« Er rief irgend etwas zurück, aber seine Worte wurden von dem heulenden Wind davongetragen. Eine Sekunde später verlor er das Gleichgewicht, purzelte Hals über Kopf weiter und jagte plötzlich mit dem Kopf voran den Eishang hinunter.
    Dann lag er 70 Meter tiefer am Fuß des Hangs da, ein regungsloser Haufen, kaum noch sichtbar. Ich war sicher, daß er sich ein Bein gebrochen hatte, vielleicht sogar das Genick. Aber dann – unglaublich, aber wahr – stand er auf, winkte, daß er o.k. sei, und taumelte auf Camp Vier zu, das in dem Moment gerade gut sichtbar war, 150 Meter weiter.
    Ich konnte die dunklen Umrisse von drei, vier Leuten ausmachen, die draußen vor den Zelten standen. Ihre Stirnlampen flackerten durch die treibenden Schneewände hindurch. Harris ging über das Flachstück auf sie zu. Er legte die Strecke in weniger als zehn Minuten zurück. Als die Wolkendecke sich einen Moment später wieder zuzog und mir jegliche Sicht raubte, hatte er nur noch 20 Meter bis zu den Zelten, vielleicht sogar weniger. Danach verlor ich ihn aus den Augen, aber ich war sicher, daß er im schützenden Lager angekommen war, wo Chuldum und Arita zweifellos mit heißem Tee warteten. Während ich so weiter den Sturm aussaß, immer noch mit diesem
    Eisbuckel zwischen mir und den Zelten, spürte ich plötzlich einen stechenden Neid. Ich war wütend, daß mein Bergführer nicht auf mich gewartet hatte.
    In meinem Rucksack war nicht viel mehr drin als drei leere Sauerstoff-Flaschen und ein halber Liter gefrorene Limonade; er wog wahrscheinlich nicht mehr als acht, neun Kilo. Aber ich war mit meinen Kräften am Ende und hatte keine Lust, mir auf dem Hang noch ein gebrochenes Bein zu holen. Ich warf also den Rucksack über den Rand und hoffte, daß er irgendwohin rutschen würde, wo ich ihn mir später wieder holen konnte. Dann stand ich auf und ging das Eis hinunter, das so glatt und hart war wie eine Kegelkugel.
    Fünfzehn Minuten heikler, zermürbender Steigeisenarbeit brachten mich heil und unversehrt an den Fuß des Abhangs, wo ich ohne Schwierigkeiten meinen Rucksack wiederfand. Weitere zehn Minuten später war auch ich im Lager. Ich stürzte in mein Zelt, die Steigeisen noch an den Stiefeln, zog den Reißverschluß zu und breitete mich auf dem reifbedeckten Boden aus. Ich konnte nicht einmal mehr aufrecht sitzen, so erschöpft war ich. Jetzt merkte ich eigentlich erst richtig, wie abgekämpft ich war: Noch nie im Leben hatte ich mich so verausgabt. Aber ich war in Sicherheit. Andy war in Sicherheit. Die anderen wären bestimmt auch bald im Camp. Wir haben's geschafft, Scheiße noch mal! Wir haben den Everest bestiegen. Zwischendurch ist es mal ein bißchen drunter und drüber gegangen, aber am Ende ist alles gutgegangen.
    Erst viele Stunden später sollte ich erfahren, daß in Wahrheit nicht alles gutgegangen war – daß 19 Männer und Frauen oben auf dem Berg in einem Sturm festsaßen und verzweifelt um ihr Leben kämpften.
     

KAPITEL FÜNFZEHN
    Gipfel 13 Uhr 25
10. Mai 1996
8.848 Meter

Es gibt viele Schattierungen in der Gefährlichkeit von Abenteuern und Stürmen, und nur dann und wann erscheint auf dem Antlitz der Tatsachen jene finstere Gewalttätigkeit – jenes unbestimmte Etwas, welches dem Verstand und Herzen eines Mannes die Überzeugung aufdrängt, diese Verknüpfung von Zufällen oder diese elementaren Wutausbrüche seien mit einer boshaften Absicht gegen ihn gerichtet, mit einer Wucht, die nicht zu bändigen ist, mit einer ungezügelten Grausamkeit, die es darauf abgesehen hat, ihm seine Hoffnung und seine furcht, den Schmerz seiner Erschöpfung und sein Verlangen nach Ruhe zu entreißen: darauf abgesehen, alles, was er wahrgenommen, erfahren, geliebt, genossen oder gehaßt hat, zu zertrümmern, zu vernichten, auszulöschen; alles, was unschätzbar und notwendig ist, der Sonnenschein, die

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