In eisigen Kerkern (German Edition)
Kontozugang, keinerlei Identitätsnachweis, was bei jemandem, der ohnehin schon wie ein Landstreicher lebte, nicht unbedingt förderlich bei Nachforschungen auf eigene Faust war. Ein Arztbesuch schied sowieso aus.
Ihr blieb offensichtlich nur eins: sich der Herolder anzuvertrauen, sie um Geld und Hilfe zu bitten und dafür Gegenforderungen in Kauf zu nehmen.
„Wollen Sie wirklich nicht mitfahren?“, fragte die Fremdenführerin durchs Fahrerfenster. Andis Platz, Andis Fenster. Fahren hätte Nelli schon wollen, aber nicht mit diesem Fahrzeug. Es reichte schon, den Laster zu sehen, um Panik aufkommen zu lassen.
„Ist ja nicht mehr weit“, antwortete Nelli. „Mir geht’s wieder ganz gut.“
„Okay.“
Der alte Motor röhrte, stieß eine schwarze, stinkende Abgaswolke durch den Auspuff und zog an Nelli vorbei. Jeder Einzelne der Touristen auf der Ladefläche starrte zu ihr zurück. Einer winkte. Vielleicht war es sogar der Täter. Nicht ausgeschlossen, dass er da oben hockte. Vielleicht hatte er die erste Tour genommen, um dabei zu sein, wenn man Nelli fand. Er beobachtete sie, da war sie sich sicher. In Nelli reifte ein Plan.
„Hallo, ich wollte eigentlich Frau Herolder. Vielleicht hab ich mich verwählt.“
„Nein, aber sie ist nicht am Platz, und deshalb hat es zu mir an die Pforte durchgestellt.“
„Wann ist sie denn wieder am Platz?“
„Sie hat sich nicht abgemeldet. Haben Sie es schon übers Handy versucht?“
„Ja, da heißt es: Dieser Anschluss ist momentan nicht erreichbar.“
„Dann ist sie vielleicht in einer Besprechung. Augenblick bitte.“
Es klickte, und Nelli hörte eine monotone Computer-Frauenstimme mit dem Text: Ihre Verbindung wird gehalten.
Stanislaus Wächter hatte ihr einen Stuhl neben das Tischchen mit dem klobigen Satellitentelefon gestellt und unaufgefordert den Raum verlassen. Konnte natürlich sein, dass er an der anderen Seite der Tür lauschte.
„Ihre Verbindung wird gehalten.“
Es war der Raum, in dem Nellis zweiter Fluchtversuch gescheitert war. Sie hatte versucht, Andi in seinen Badewannenraum einzusperren, ihn mit Mehl zu blenden.
Die Mehlsäcke waren noch hier. Überhaupt sah es noch genauso aus wie damals. Nelli fragte sich, ob es absichtlich so gelassen wurde, um die Stimmung jener Nacht exakt wiederzugeben, oder ob der Raum parallel auch für den Gästebetrieb als das genutzt wurde, was er war: ein Vorratslager für die Küche.
Schon zu Andis Zeiten war es in allen Räumen der Hüttenwirtschaft äußerst beengt zugegangen. Nun aber musste die Küche mehr Gäste versorgen als früher, zugleich wurden Touristen durchgelotst, und hinter den Kulissen war jeder verfügbare Platz vollgestopft mit Technik, die es zu Andis Zeiten nicht gegeben hatte. Der Generator hinterm Haus, den Nelli nicht nur brummen hörte, sondern dessen Vibration sie auch spürte, versorgte neue Kühlschränke, Lampen, Heizgeräte, einen Herd, das Satellitentelefon, einen Fernseher mit CD-Player, der in Endlosschleifen mehrere Nachrichtensendungen über Andis Fall abspielte...
„Hören Sie?“, riss die Stimme der Verlags-Vermittlung sie aus ihren Gedanken.
„Ja?“
„Frau Herolder scheint nicht im Haus zu sein. Kann sie zurückrufen?“
„Ehrlich gesagt... keine Ahnung. Ich versuche es einfach heute Nachmittag noch mal.“
Sie wusste nicht mal, wie man auflegte. Als die Verbindung von der anderen Seite her unterbrochen wurde, legte Nelli den Hörer auf den Stuhl und wollte Wächter holen, um ihn das Auflegen erledigen zu lassen. Da sah sie etwas Seltsames, eine Art Holzklappe im Steinfußboden des Lagers. Es war nur ein Eck zu sehen, da der gesamte Raum mit Kisten und Kartons zugestellt war, aber was hätte das anderes sein sollen? Ein Brett hätte auf dem Boden gelegen und wäre nicht eingelassen gewesen. Die Klappe musste schon zu Andis Zeiten existiert haben.
Vielleicht nur ein weiterer Lager- oder ein kleiner Kellerraum.
Es klopfte an der Tür von Andis Büroraum her, und Nelli rief: „Ja bitte?“
Wächter kam herein.
„Und, haben Sie etwas erreichen können?“
„Nein. Aber wenn ich darf, versuche ich es heute Nachmittag noch mal.“
„Selbstverständlich. Ich würde vorschlagen, dass Sie sich in der Zwischenzeit ein bisschen hinlegen und ausruhen. Wenn Sie schon keinen Arzt wollen...“
„Nein, will ich nicht.“
Die Besorgnis in seinem Blick war echt. Und sie war auch berechtigt. Nelli hatte vor Entsetzen aufgestöhnt, als sie sich auf der
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