In eisigen Kerkern (German Edition)
lag, zerschmettert, eine Dachschindel. An der rohen, abgenutzten Eingangstür hing an einem Nagel ein vergilbter, von Feuchtigkeit gewellter Zettel.
„Bin auf zur Alm. Brod u. schpeck i. Kammer. Weis nicht wann zurük“, las Nelli halblaut. Die Schrift war mühevoll und eckig mit einem Bleistift aufs Papier geritzt.
„Hallo?“, rief sie ängstlich und viel zu leise. Sie räusperte sich, versuchte es noch einmal lauter: „Hallo? Ist jemand da? Herr Aichinger?“
Der Riegel der Tür war mit einem Vorhängeschloss gesichert, das nicht eingerastet war. Nelli wagte es trotzdem nicht, es auszuhängen und die Tür zu entriegeln. Erst mal das Haus umrunden, vielleicht trieb sich ja dahinter jemand herum.
Es gab nur drei Fenster in Augenhöhe rings ums Haus. Grobe, schmutzige Gardinen machten ein Hineinschauen unmöglich.
Blieb die Scheune. Wenn die auch offen war, konnte sie ja mal einen Blick riskieren.
„Hallo?“
Offen.
Nelli schaute durch den Spalt.
Unspektakulär, was sonst? Der düstere Scheunenraum war geteilt durch eine halbe Holzwand. Strohgeruch, überwiegend muffig mit ein paar frischen Wiesendüften durchsetzt, hing in der staubigen Luft. Der Eindruck von wirbelndem Nebel entstand durch das Tageslicht, das durch Ritzen, Astlöcher und Bretterspalten vieltausendfach ins Dunkel der alten Scheune drang und dreidimensionale Lichtmuster in die Luft zauberte.
Nelli quetschte sich durch den Spalt, ohne darüber nachzudenken, warum eigentlich und mit welchen Erwartungen. An einer Wand lehnte ein alter Holzrechen. Am Boden verteilt lagen verrostete Eisenwerkzeuge, deren Funktion Nelli nicht mal raten konnte. Ein Strohhaufen rechts. Zertretene Strohreste über den steinigen Erdboden verstreut.
Hinter der Bretter-Trennwand zur Linken stand etwas chromglänzend Neues. Geweihartig. Nelli erkannte einen Motorradlenker, machte einen Schritt nach vorn, bekam den bauchigen Motorradtank zu sehen, noch ein Schritt, den Sitz, das Hinterrad. Auf dem Sitz ein Helm. Am linken Lenkradgriff hing eine fransige Lederjacke.
Andis Jacke. Andis Motorrad und Helm.
Nelli drehte sich um und hastete panisch zum Scheunentor, zappelte sich gegen den Widerstand des zu engen Spalts hinaus, rannte auf den freien Platz zwischen Scheune und Haus, drehte sich im Kreis und überzeugte sich, dass niemand lauerte, niemand sie gleich packen und in der Luft zerreißen würde.
Mit Andis grell-lautem Motorrad-Auftritt hatte die Nacht des Schreckens begonnen. Er hatte sie damit gestellt, eingefangen und nicht mehr losgelassen. Hier also war sein neuer Unterschlupf. Er lebte. Der gottverdammte, scheißverrückte Misthund lebte!
Ruhig, Nelli, das hatte überhaupt nichts zu bedeuten. Gerda hatte den Hobel geerbt und hier geparkt. Wo auch sonst?
Andi, wäre er noch unter den Lebenden, würde nie so offen ausgerechnet hier sein Zeug abstellen. Oder erst recht? Wer kam schon hier herauf und schaute in die Scheune?
Sie musste ins Haus und sich überzeugen. Wenn sie jetzt wieder ging, hatte sie nichts erreicht. Es war ein schöner Tag, na ja, vielleicht nicht mehr ganz so schön, die Wolken füllten den Himmel auf und wurden immer dunkler, aber da unten, ein paar 100 Meter weiter, waren die Straßen voller Menschen, man sah sie doch immer noch herumwuseln, oder?
Ein verwaistes, wie ausgestorbenes Dorf lag zu Nellis Füßen. Und wären da Menschen, was wären das für Menschen? Helfer für sie bestimmt nicht – Andi-Clan, Feinde waren das. Und auf dem Rückweg musste sie wieder durch das Dorf der Andi-Indianer, sich seinem Stamm stellen. Ein anderer Weg führt nicht hoch zum Pass, seinem Pass.
Das Wummern in Nellis Brustkorb ließ nicht nach. Meinte sie wirklich, im Haus auf Andi zu treffen, ihn in diesem präsentiertellerartigen Versteck aufzuspüren und damit die Sache zu beenden? Motorrad-Spur gefolgt, Drohbriefeschreiber gefunden, Fall gelöst. Oder sich selbst zur Schlachtbank geführt?
Hau lieber ab!
Ja, ich hau lieber ab, dachte Nelli, derweil sie schon aufs Haus zuging, Schritt für Schritt, das leere, tote Haus. Bestimmt war niemand da drin, aber vielleicht ein Hinweis? Dieser Zettel, diese Botschaft, für wen, für sie? Andi „auf“ zur Alm? Wo „auf“? Den Weg hinterm Haus „auf“? Wenn er sich irgendwo versteckte, Notizen schrieb oder Hinweise herumliegen ließ, dann doch nicht hier, im Reich seiner brachialbrutal ersatzmutterspielenden Thekenkraft. Oder Gerda selbst, fuhr sie jetzt mit diesem Motorrad, war also zu Hause und
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