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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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daran, dass es anderen genauso ging. Die meisten Taten beruhten auf Langeweile. Es gab natürlich auch andere Motive – Habgier, Lüsternheit, Neid, Selbsterhaltungstrieb oder Eitelkeit. Aber das war zweitrangig. Die Grundlage war und blieb die Langeweile. Ein fettes, wabbeliges Biest. Schon immer hatte es Mark vernichten, ihn überwältigen und ersticken wollen. Als er ein Kind war, erschien es in Gestalt der Kindergärtnerin, der Lehrerin, der Schuldirektorin und schließlich der eigenen Eltern.
    Die Kindheit war voller Langeweile. Das ewige schmutzige Weiß der Plattenbauten, der verrußten Schneewehen im Winter und des kümmerlichen, staubigen Grüns im Sommer. Moskauer Stadtrand. Die öden Sechziger. Blaue Schuluniform für die Jungen, schwarzbraune für die Mädchen. Lehrerinnen in Synthetikkleidern. Filme über rote Partisanen. Wurst zu zwei Rubel zwanzig. Das allabendliche Nachrichtenprogramm »Wremja«. Blödsinnige Versammlungen, erst bei den Pionieren, dann beim Komsomol. Geburtstage mit fettigen Torten, dünnem Tee und klebriger Limonade.
    Sein Blick vergrößerte alles Hässliche und malte es grell aus, sodass es lange im Gedächtnis haftenblieb. Eine zerquetschte Taube auf der Fahrbahn. Seine Banknachbarin, dieheimlich ihre eigenen Parasiten aß. Die großen Schuppen auf dem blauen Satinkittel des Werklehrers. Wenn er einen Menschen anschaute, sah er nicht sein Gesicht, sondern abstoßende Details: einen Pickel, eine Warze, einen faulen Zahn.
    Schon als kleiner Junge besaß er eine besondere Beobachtungsgabe. Nichts entging seinem aufmerksamen Blick. Er entdeckte und verriet seinen Klassenkameraden, dass die Mathelehrerin eine Perücke trug und sich die Brauen schwarz anmalte, dass die Pionierleiterin sich etwas in den BH stopfte, dass der Sportlehrer trank und ein falsches Gebiss hatte.
    Zu Hause war es noch schlimmer als in der Schule. Die psychopathische Mutter, die sich für nichts interessierte als für böhmisches Kristall, afghanische Teppiche, ihre Verdauung und ihren Blutdruck, die bei Kriegs- und Liebesfilmen vorm Fernseher heulte, aber ihren eigenen Sohn wegen eines Flecks auf dem Hemd oder eines zerschlagenen Tellers anschrie. Und der stille Vater mit seinem ungesunden säuerlichen Geruch und den drei Haaren auf der Glatze.
    Es war beleidigend, solche Eltern zu haben, in einer solchen Wohnung zu leben, in eine solche Schule zu gehen. Mark fühlte sich als Fremder, der durch ein grausames Missverständnis in eine Welt sprechender Puppen und Pappkulissen geraten war. Er wusste, dass er mehr verdiente, und wenn jemand anders in seiner Umgebung mehr besaß als er, brannte ihm diese Ungerechtigkeit in der Seele.
    Die dürftigen sowjetischen Konsumgüter boten reichlich Nahrung für Wünsche. Alles Ausländische war Sendbote einer anderen Welt, des wahren, freien und bunten Lebens. Ein Kaugummi, ein schicker Matchbox-Rennwagen, ein dicker Kugelschreiber mit vielen farbigen Minen und Jeans, selbst wenn sie nur aus Indien oder Polen stammten.
    Der eine hatte einen Vater, der Pilot war und Dinge aus dem Ausland mitbrachte, der andere eine Mutter, die in einem großen Kaufhaus an der Kasse saß und auch hin und wieder etwas Ausländisches, Schönes, Leckeres bekam. Ein Dritter aß jedenTag Brote mit echter finnischer Zervelatwurst, der Nächste lief im Winter nicht in einem grauen Fischgrätmantel mit Ziegenfellkragen herum, sondern in einer federleichten Daunenjacke mit breitem Reißverschluss und silbernen Litzen.
    In der fünften Klasse brachte ein Junge eine zerfledderte ausländische Zeitschrift mit. Auf Farbfotos demonstrierten nackte Frauen in verschiedenen Posen alles, was normalerweise verborgen blieb. Gierig bestaunten die Fünftklässler diese Hochglanzfreuden auf der Brache hinter der Schule, bei den Müllcontainern. Der Junge mit dem Magazin war für eine paar Tage der Held der Klasse.
    Im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen vergaß Mark nie, wie verdorben und lasterhaft Kinder waren, besonders in Gruppen, wie sehr sie sich für alles Geschlechtliche, für die Kopulation interessierten. Die Reinheit des Kindes – das war ein heuchlerischer Mythos.
    Mit diesem Satz begann er seine erste Erzählung. Damals träumte er von großem Weltruhm als Schriftsteller.
    Jetzt wollte er nur noch Geld.
    Von Ruhm konnte in seinem Gewerbe keine Rede sein. Im Gegenteil, er brauchte vollkommene Anonymität, am besten wäre er überhaupt unsichtbar.
    Bevor er hierhergekommen war, hatte er nie freie Zeit

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