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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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gerollt, und der neue Minister löste die Gruppe auf.
    Der alte Minister war ein Anhänger alles Westlichen, Amerikanischen gewesen und hatte versucht, das Innenministerium nach dem Muster der Polizei in den USA umzustrukturieren. Der neue zeigte sich patriotisch und erklärte, es sei für Russland demütigend, den Westen nachzuahmen. Profiling sei Scharlatanerie und unnütze Verschwendung von Zeit und Geld.
    Übrigens hatten die Spannungen innerhalb der Gruppe kurz vorm Überkochen gestanden. Guschtschenko hatte, wie er sich ausdrückte, lauter »Einzelkämpfer« um sich geschart. Jeder war tief im Innern ein Genie. Jeder hielt seine Theorie für die einzig richtige und hörte keinem anderen zu. Als Olga erklärte, sie sähe einen Zusammenhang zwischen der alten, angeblich aufgeklärten Mordserie des Würgers von Dawydowo und der Serie von Moloch und halte es nicht für ausgeschlossen, dass es sich um ein und denselben Täter handele, wurde sie von den anderen offen verspottet.
    Dima hatte sie damals gewarnt: Sag es ihnen nicht. Sie hatte nicht auf ihn gehört und die Quittung dafür bekommen.
    »Ach, und was hat er zwischen 1986 und 2003 getrieben? Kaninchen gezüchtet? Landschaften gemalt? Psychopathen machen keine so langen Pausen. Und wie passt das zu deiner Theorie von Moloch als Missionar und den Kinderpornos? Oder glaubst du, die blinden Waisen aus dem Heim in Dawydowo wären auch nackt gefilmt worden?«
    Dima und sie verstanden sich noch immer auch ohne Worte. Als Kinder hatten sie damit gespielt: Sie liefen im Abstand von mindestens zehn Metern die Straße entlang, ervorn, sie hinten oder umgekehrt. Derjenige, der hinten ging, forderte in Gedanken den anderen auf: Bleib stehen! Und der Vordere blieb stehen. Der Hintere kratzte sich an der Nase, bewegte die Brauen, streckte die Zunge raus, zog sich mit der rechten Hand am linken Ohr, und der Vordere tat, ohne sich umzuschauen, genau das Gleiche.
    Das konnte sonst niemand. Niemand bis auf Olgas Zwillinge Andrej und Katja, als sie ganz klein waren.
    Ich habe mir an jenem nassen Julitag wirklich das Leben versaut. All die Jahre habe ich mich nach ihm gesehnt, aber nicht gewagt, mir das einzugestehen. Als wir uns dann wiedertrafen und zusammenarbeiteten, konnte ich mir einfach nichts mehr vormachen. Dima Solowjow ist der einzige Mann, den ich je geliebt habe und noch immer liebe. Aber wir haben uns getrennt, und daran bin ich allein schuld. Nicht Mama oder Alexander. Ich. Ja und? Was weiter? Ich habe zwei Kinder, und Alexander ist ihr Vater.
    Sie wusste, dass Dima jetzt in seinem Büro saß, den Computerbildschirm anstarrte und sich über sich selbst ärgerte, weil er auf ihren Anruf wartete. Von sich aus würde er auf keinen Fall anrufen. Schließlich hatte er damals vor zwei Jahren beim Abschied gesagt: »Wenn du mich sehen willst, ruf an. Ich werde es nicht tun.«
    Olga wollte ihn schrecklich gern sehen, jeden Tag streckte sie die Hand nach dem Telefon aus, zuckte aber immer wieder zurück wie vor einem Stromschlag. Dima einfach so anzurufen, ohne einen wirklichen Grund, hieße, wieder von vorn anzufangen. Doch das war unmöglich.
    »Unmöglich, unmöglich«, flüsterte Olga.
    Die zerkratzte Plastikplatte des Küchentischs, die Schranktür mit der abgeplatzten Ecke, die Stille im Flur, die warme Dunkelheit der Zimmer, in denen ihr Mann und ihre Kinder schliefen – das alles erschien ihr plötzlich klein, schutzlos und verletzbar. Die alte Wohnung, das Familiennest, wo längst einmal renoviert werden müsste, wo niemand Geschirr spülenund die Fußböden wischen mochte, wo die Wasserhähne tropften, der Kühlschrank brummte, die Waschmaschine rumpelte, die Kartoffeln keimten, dauernd Socken verschwanden, das Telefon ewig besetzt war und der Fernseher lärmte.
    Die Kinder kamen in die Pubertät. Sie stritten sich ständig. Sie müssten beide ein neues Mobiltelefon mit Kamera bekommen, ein Paar Inlineskates und einen kompletten Satz Sommerkleidung und -schuhe, denn sie waren aus allem herausgewachsen.
    Andrej versuchte mit tiefer Stimme zu sprechen, darum hatte er Halsschmerzen. Er hatte sich den Pony bis zur Nase wachsen lassen und warf energisch den Kopf zurück, wenn er ihm ins Gesicht fiel. Katja hatte von einer wohlmeinenden Freundin zu hören bekommen, sie hätte eine Figur wie ein Klotz. Nun aß sie kein Brot mehr und machte jeden Morgen eifrig komplizierte Gymnastikübungen. Andrej lief nur mit Kopfhörern herum, aus denen Krach, Gebrüll und

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