In ewiger Nacht
Schamanengeflüster drangen. Katja füllte ständig Fragebögen in Mädchenzeitschriften aus – »Erkenne deinen Charakter!«, »Bist du eine gute Freundin?«, »Was hindert dich, deine Komplexe loszuwerden?« Sie legte sich mitten im Zimmer auf den Fußboden, kritzelte Plus- und Minuszeichen in die Rubriken und rechnete das Ergebnis aus. Das alles tat sie nur, weil sie nicht genug Aufmerksamkeit bekam.
»Du liebst deine Irren und Psychopathen mehr als uns!«, hatte Andrej einmal geschrien.
Danach hatte sie die Gerichtsmedizin aufgegeben. Nicht nur, weil Guschtschenkos Gruppe aufgelöst worden war. Sie hätte im Institut bleiben können und wäre es auch gern, hatte aber wieder einmal nach der idiotischen Regel gehandelt: Überlege, was du in diesem Augenblick willst, und dann tu genau das Gegenteil.
»Willst du gar nicht schlafen gehen?« Alexander stand in der Tür, blass und verärgert, in seinem abgetragenen Bademantel und zerschlissenen Pantoffeln.
»Ich komme gleich. Leg dich schon hin, warte nicht auf mich.«
»Sitzt hier in der Kälte und qualmst wie ein Schlot.« Er trat zu ihr, umarmte sie, legte sein Gesicht auf ihren Scheitel und murmelte: »Es steht schlecht um uns, ja, Olga?«
»Wieso? Es ist alles bestens.«
»Bist du sicher?«
»Natürlich, Alexander.«
Zweiundzwanzigstes Kapitel
Wenn Hunde sprechen könnten, würde der amerikanische Wasserspaniel Ganja jetzt Folgendes sagen: »Schämst du dich nicht, Solowjow? Weißt du, wie spät es ist? Halb drei Uhr früh! Und du bist heute Morgen um acht aus dem Haus gegangen. Ja, du warst vorher schön mit mir draußen. Ja, du hast Futter- und Wassernapf gefüllt. Doch wie du siehst, sind sie noch halbvoll. Hast du vergessen, dass ich zum Essen und Trinken Gesellschaft brauche? Aber Hunger und Durst sind nicht das Schlimmste. Hast du eine Ahnung, was in meinem Bauch los ist? Jeder andere Hund an meiner Stelle hätte seine Geschäfte längst in der Wohnung erledigt, und zu Recht. Aber ich – nein, ich warte. Halte aus. Was stehst du noch rum? Nimm endlich die Leine! Dein Handy kann warten. Ich hasse dieses winselnde Ding! Irgendwann nehme ich mir das mal vor, im Ernst! Überhaupt – kein anständiger Mensch ruft früh um halb drei an.«
Genau das drückte Ganja mit seinem lauten Gebell im Flur wahrscheinlich aus, als Solowjow versuchte, mit einer Hand die Leine am Halsband zu befestigen. In der anderen hielt er das Telefon. Es war Anton Gorbunow; er drang nur mit Mühe durch das beleidigte Gebell.
»Ich habe Vaselin gefunden!«, rief Anton. »Valentin Kuwajew, geboren 1962! Der aus dem Telefonspeicher! Ich bin in einem Nachtklub, er gibt hier ein Konzert.«
Endlich waren sie draußen. Ganja hob das Bein am Rad eines schicken Jeeps und entledigte sich zunächst seines dringendsten Problems. Dann stürmte er vorwärts, schaffte es gerade so bis zum Rasen, stellte sich bequem hin und konzentrierte sich ganz auf sein Geschäft. Die Miene des Hundes spiegelte reines Glück – im höchsten, philosophischen Sinn.
Anton wartete auf Anweisungen – ob er Vaselin sofort als Zeugen vernehmen oder ihn erst einmal ein paar Tage lang observieren sollte.
»Hier sind jede Menge Minderjährige und werfen sich ihm an den Hals«, flüsterte Anton aufgeregt. »Es wird offen mit Drogen gehandelt, auf dem Klo wird geschnupft und gefixt. Ich glaube, dieser Vaselin ist ein Irrer. Sie sollten seine Songs hören! Lauter Sado-Maso!«
»Ja, hab ich schon.« Solowjow lachte auf. »Aber das beweist noch nichts. Keine voreiligen Schlüsse, Anton. Überprüf mal, ob er Auto fährt. Und versuch rauszukriegen, wo er in der Mordnacht war.«
»Er fährt Auto, einen Honda. In der Mordnacht hatte er kein Konzert, war aber in Moskau. Es ist nicht verheiratet, lebt allein. Manchmal übernachtet eine Frau bei ihm, seine Managerin und wohl zugleich seine Geliebte. Ihr Verhältnis scheint angespannt. Überhaupt ist er im Moment sehr gereizt. Benimmt sich merkwürdig, schaut sich dauernd um, als ob er jemanden sucht oder Angst hat.«
»Gib dich als Reporter aus. Verabrede ein Interview mit ihm. Taste ihn erst mal ein bisschen ab, dann sehen wir weiter.«
Solowjow steckte das Telefon weg. Ganja scharrte ein paar Meter neben dem dampfenden Haufen symbolisch mit den Hinterbeinen in der Erde, dann schaute er seinen Herrn fragend an.
Solowjow wollte nach Hause, fühlte sich aber dem Hund gegenüber schuldig. Ihn von der Leine zu lassen, wagte ernicht. Früher hatte er das getan, doch vor
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