In ewiger Nacht
Solowjow mit eingekniffenen Lippen. Im Lift drückte der Hund seine Schnauze gegen Solowjows Hand und wedelte mit dem Schwanz.
»Hör auf«, sagte Solowjow, »ich will jetzt nicht mit dir reden. Du bist ein erwachsener Hund und solltest wissen, was du tust.«
Wäre Ganja der Sprache mächtig gewesen, hätte er wohl geantwortet: »Entschuldige. Ich weiß. Ich tu’s nie wieder.«
Der Wanderer öffnete die Augen und starrte in die Dunkelheit. Er hatte höchstens zwei Stunden geschlafen. Er zitterte am ganzen Leib. Er musste handeln, jetzt gleich, sofort. Er hatte viel Kraft verloren – bei der Maskerade für den alten Lehrer und anschließend, als er zwischen den Häuserwänden feststeckte. Er empfand echte Angst, alles in ihm schrie nach einer neuen Dosis Bioplasmid.
Wie Schlaglichter sah er die Gestalten der gefangenen Engel vor sich. Der Junge, der mit dem Schrei »Mama! Mamotschka!« zu der Hominidin gelaufen war. Das ganz kleine Mädchen, das er zwar nicht gesehen hatte, sich aber gut vorstellen konnte.
Den Blick an die Decke gerichtet, sprach der Wanderer leiseund monoton seine endlosen Monologe. Eine Zeitlang hatte er diese Offenbarungen auf Band aufgezeichnet, überzeugt davon, dass es nicht er selbst war, der da sprach, sondern ein archaischer Geist, der ihn seiner göttlichen Aufmerksamkeit würdigte. Doch dann begriff seine andere, reale Hälfte, dass es gefährlich war, diese Kassetten im Haus zu haben, und er vernichtete sie nach und nach. Die letzte hatte er heute Morgen verbrannt. Die wertvollste. Auf ihr hatte er den Beginn der bewussten Erfüllung seiner Mission festgehalten.
Zwischen 1983 und 1986 hatte er fünf Engel befreien können.
Die blinden Waisen, kleine Hominiden, waren meist sich selbst überlassen. In der warmen Jahreszeit kehrten sie manchmal zu Fuß aus der Wolfshöhle zurück, allein, ohne Erwachsene. Sie kannten sich in der Gegend gut aus, und da sie blind waren, machte es für sie keinen Unterschied, ob Tag oder Nacht war.
Die Kinder nahmen einen breiten Weg am See entlang. Zu Fuß war es bedeutend kürzer als mit dem Auto. Normalerweise liefen sie im Gänsemarsch. Der Älteste ging voran und tastete mit einem weißen Stock den Boden und die knorrigen Baumwurzeln ab. Die anderen orientierten sich am Geräusch seiner Schritte.
Mit dieser seltsamen nächtlichen Prozession der blinden Kinder hatte alles angefangen.
Wegen seiner permanenten Schlaflosigkeit ging der Wanderer oft nachts spazieren. Er brauchte Bewegung, und diesen Bewegungsdrang konnte er nachts allein im Wald am besten ausleben. Zum hundertsten, ja tausendsten Mal spielte er im Kopf die Szene auf dem Dachboden durch, bis zur Ekstase, und wenn er zu sich kam, entdeckte er, dass er den schlanken Stamm einer jungen Birke umklammerte wie den Hals des Hominidenflittchens.
Eines Tages also drangen durch das Rascheln der Blätter, durch die geheimnisvollen Geräusche des nächtlichen Waldeslebhafte Kinderstimmen. Er versteckte sich hinter Büschen und erblickte die eigentümliche Prozession. Die Nacht war hell, der Vollmond beleuchtete die Gesichter der Kinder, ihre starren Augen.
Ganz hinten lief die Kleinste, ein Mädchen von etwa sieben Jahren. Sie blieb zurück, weil sie etwas fallen gelassen hatte, sich hinhockte und im Gras herumtastete. Sie rief den anderen zu, sie sollten warten. Er hatte nicht gewagt, sie zu überfallen. Es waren vier Kinder. Mit allen wäre er nicht fertig geworden, womöglich wären die anderen weggelaufen und hätten Hilfe geholt.
Aber seit dieser Mainacht hatten seine Spaziergänge einen bestimmten Sinn und ein konkretes Ziel gehabt. Er kreiste immer um das Kinderheim und den See. Er besann sich erst, als der Wächter des großen Hauses ihn entdeckte und ansprach. Sein Gesicht konnte er nicht gesehen haben, nur die Silhouette, trotzdem wurde der Wanderer nun vorsichtiger.
Als er wieder einmal in Moskau war, kaufte er in einem Kostümgeschäft mehrere künstliche Bärte, Perücken und Schminke. Auf dem Flohmarkt erstand er eine Menge schäbiger Kleidungsstücke und Schuhe. Das alles packte er in eine Sporttasche und legte sie in den Kofferraum.
Sein erstes Opfer, ekelhaft und völlig sinnlos, wurde der nackte betrunkene General.
Dann lauerte er einem Mädchen auf. Sie sammelte am Zaun Erdbeeren, auf der Rückseite des Heims, wo kein Pförtner war und auch sonst niemand. Er beobachtete lange, wie das blinde Kind in der Hocke das Gras und die Erdbeerpflanzen um sich herum abtastete,
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