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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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als spiele es Klavier. Die leichten, sensiblen Finger flogen über die weißen Blüten und fanden und pflückten die noch raren blassgrünen, erst auf einer Seite rosa gefärbten Früchte.
    »Na, schmecken sie?«, fragte er und hockte sich neben sie.
    »Ja. Sehr. Willst du?« Sie streckte ihm die Hand mit den Erdbeeren hin.
    Er nahm sie mit dem Mund, und eine heiße Welle durchfuhr ihn, als seine Lippen die warme Haut berührten.
    Die blinden Waisen waren zutraulich, in jedem Erwachsenen vermuteten sie jemanden, der sie adoptieren wollte. Die Kleinsten fragten jede Frau: »Bist du meine Mama?« und jeden Mann: »Bist du mein Papa?« Nur die Männer in der Wolfshöhle fragten sie das nie.
    »Bist du ein Opa?«, fragte das Mädchen den Wanderer.
    »Ja«, antwortete er, »ich bin ein Opa, aber ein ganz besonderer. Ich bin nämlich ein Zauberer.«
    »Wie das?«
    »Hast du noch nie von Zauberern gehört?«
    »Doch. Aber die gibt es nur im Märchen.«
    »Nicht nur. Auch im richtigen Leben. Sag, was wünschst du dir jetzt gerade am meisten?«
    »Schokolade«, antwortete das Mädchen, ohne zu zögern.
    Er holte einen Schokoriegel aus der Tasche und legte ihn ihr in die Hand. Sie lachte freudig.
    »Und was noch?«, fragte er. »Was wünschst du dir noch?«
    »Neue Schuhe.«
    »An einem Tag kann ich immer nur einen Wunsch erfüllen. Aber du hast insgesamt drei Wünsche frei. Du bist doch ein kluges Mädchen, überleg mal, was wünschst du dir am allermeisten?«
    »Dass ich sehen kann und dass meine Mama mich abholen kommt.«
    »Das ist schwer zu erfüllen, aber ich werde es versuchen. Doch denk dran, wenn du auch nur einer Menschenseele von mir erzählst, dann wird nichts daraus.«
    »Nein, nein, ich erzähle es niemandem! Schwindelst du auch nicht?«
    »Ich kann nichts versprechen, aber ich werde es versuchen. Allerdings gibt es eine Schwierigkeit. Du musst in der Nacht an den See kommen, und niemand darf davon wissen.«
    »Warum in der Nacht?«
    »Weil am Tag das Licht zu grell ist. Wenn deine Augen anfangen zu sehen, müssen sie sich langsam an das Licht gewöhnen.«
    Das Mädchen kam in der Nacht zum See, und der Engel, der in ihr weinte, flog in die Freiheit. Der Wanderer hatte sein Versprechen gehalten. Engel waren nicht blind.
    Als man die Leiche im See und die Kleider am Ufer fand, wurde das Ganze als Unfall behandelt. Es gab keinerlei Ermittlungen. Also hatte das Mädchen niemandem etwas erzählt. Doch nun wurden die Kinder mit dem Auto von der Wolfshöhle nach Hause gebracht, und sie verließen das Heimgelände nicht mehr ohne Erwachsene. Der Wanderer zog sich zurück und wartete.
    Ende August wurden die Kinder wieder mutiger und die Erwachsenen nachlässiger. Ein Stück vom Heim entfernt war ein Haselnusshain. Eines Tages beobachtete der Wanderer, wie ein Mädchen, etwas älter als das erste, einen Ast herunterbog und ihn nach Nüssen absuchte. Es war niemand in der Nähe, also ging er hin, half ihr, pflückte Nüsse für sie und unterhielt sich mit ihr. Das Gespräch verlief fast genauso wie beim ersten Mal, auch die drei Wünsche waren die gleichen: Schokolade, Sehen, Mama.
    Der Wanderer hütete sich, das Mädchen zum See zu bestellen, um kein unbewusstes Misstrauen zu wecken. Er sagte, sie solle zu der Stelle kommen, wo der Pfad zur Bahnstation abbiegt.
    Wieder schöpfte kein Erwachsener Verdacht. Ein Unfall. Das Einzige, was ihnen hätte auffallen können, waren die abgeschnittenen Haare. Der Wanderer brauchte sie nicht als Souvenir – das Abschneiden der Haare stand symbolisch für die Taufe oder die monastische Weihe.
    Er tötete nicht, er zelebrierte ein heiliges Ritual.
    Der Wanderer beschloss, sich bis zum nächsten Sommer zurückzuhalten. Doch dann geschah es, dass er eines Nachts im Oktober im Wald auf einen achtjährigen Jungen traf.
    Es war niemand in der Nähe. Der Junge war aus dem Heim weggelaufen und auf dem Weg zur Bahnstation.
    Diesmal wurden nach dem Fund der Leiche Ermittlungen eingeleitet. Nun glaubte niemand mehr an einen Unfall. Der Wanderer musste sich wirklich zurückziehen, und zwar für lange Zeit.
    Es vergingen anderthalb Jahre, bevor er sich entschloss, erneut auf die Jagd zu gehen. Es war Anfang Mai, und nachts liefen keine Kinder im Wald herum. Sie wurden noch immer zum großen Haus gefahren, zu dritt oder zu viert, meist Mädchen, manchmal aber auch Jungen. Zurückgebracht wurden sie ebenfalls mit dem Auto.
    Der Wanderer zitterte wie im Fieber. Das Weinen der Engel übertönte alle

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