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In ewiger Nacht

In ewiger Nacht

Titel: In ewiger Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Polina Daschkowa
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mit ihrer Mutter ein kleines Zimmer in einer Gemeinschaftswohnung in einem alten Haus unweit vom Platz der drei Bahnhöfe.
    Die große, linkische Frau mit den dicken Fesseln war daran gewöhnt, von den Männern ignoriert zu werden. In ihrer Generation waren die Männer ohnehin knapp, Krieg und Straflager hatten Gleichaltrige und Ältere vernichtet.
    Sie hätte gern ein Kind gehabt, und kurz bevor sie vierzig wurde, war dieser Wunsch zu einer richtigen Manie geworden.
    Es war das Jahr 1946. Ein heißer, feuchter Mai ging zu Ende. Kurze Gewitter, das Rascheln frischer grüner Blätter, die ersten Absatzschuhe nach dem Krieg, ein leuchtendes Kleid aus Crêpe de Chine. Das hatte sie sich auf einer alten Singer-Nähmaschine selbst genäht, aus einem Stück Stoff, das wundersamerweise in der Truhe der Mutter überlebt hatte. Vorm Schlafengehen wickelte sie ihre Haare auf Lockenwickler aus Mull, morgens schminkte sie sich die Lippen und besprühte sich den Hals mit dem Parfüm »Roter Mohn«. Am dritten Juni wurde sie vierzig. Genau in einer Woche.
    Die Geschichte der schicksalhaften Begegnung mit dem Mann, der sein biologischer Vater werden sollte, wurde dem Jungen von Jahr zu Jahr anders erzählt und durch immer neue Details ergänzt.
    Mal hieß es, er sei Flieger gewesen, er und seine Mutter hätten sich noch vor dem Krieg kennengelernt, aber nicht mehr heiraten können, weil er an die Front musste. Im Mai 1946 seien sie sich wiederbegegnet, aber nur für einen Tag. Er habe auch nach dem Sieg weiterkämpfen müssen, habe nur einen kurzen Urlaub bekommen und sei kurz darauf gefallen.
    Dann wieder war er Aufklärer, streng geheim, tief im feindlichen Hinterland, oder aber U-Boot-Kapitän – Ferner Osten, Port Arthur, Schädelkontusion.
    Die Wahrheit erfuhr er mit fünfzehn aus einem Küchengespräch.
    Am dreißigsten Mai war seine Mutter sehr spät aus ihrem Ministerium nach Hause aufgebrochen. Zu Fuß ging sie durch einsame Straßen und Höfe. In der Metro hatte ein junger Mann sie angestarrt und war ihr gefolgt, und an einem stillen dunklen Ort, auf einer unbebauten Brache, überfiel er sie, versetzte ihr einen Schlag auf den Kopf und würgte sie. Sie verlor das Bewusstsein und konnte nicht einmal schreien. Im Morgengrauen las eine Milizstreife sie auf. Die Handtasche mit den Lebensmittelkarten war gestohlen, ebenso ihre Schuhe und ihre billige Korallenkette. Die Verletzungen waren nicht weiter schlimm; bereits nach einer Woche ging sie wieder arbeiten. Nach einem Monat stellte sie fest, dass sie schwanger war.
    Abtreibungen waren damals verboten. Natürlich hätte sie mit einer Bescheinigung von der Miliz eine Genehmigung erwirken können, aber das wollte sie nicht. Sie erinnerte sich, dass der Täter jung, gesund und stark gewesen war. Alles andere war unwichtig. Es war ihre letzte Chance.
    Ein Jahr lang glaubte niemand, dass der Junge überleben würde – er war zu früh geboren, noch dazu mit einer komplizierten Lungenkrankheit. Sie legte ihm Flaschen mit heißemWasser ins Bettchen und trug ihn tagelang auf dem Arm. Auch später zitterte sie ein Leben lang um ihn, schützte ihn vor Durchzug und Feuchtigkeit.
    Kleine Gegenstände konnte er verschlucken, schwere Gegenstände konnten ihm auf den Kopf fallen. Elektrische Leitungen und Steckdosen, ein kochender Teekessel, Schmutz unter den Fingernägeln, Türklinken in öffentlichen Gebäuden, Straßenbahnen, Autos, streunende Hunde, die Jungen auf dem Hof und in der Schule – alles war gefährlich, alles bedrohte seine Gesundheit und sein Leben. Diese Angst um sich sog er mit der Muttermilch ein.
    Die Welt um ihn herum war grob und feindselig. Er konnte mit niemandem befreundet sein. Er wurde gehänselt: Fettklops, Memme. Von klein auf fühlte er sich furchtbar verletzlich. Vielleicht war seine Haut deshalb so empfindlich.
    Die Handschuhe, die die Großmutter aus billiger Wolle strickte, kratzten, der Schaft der Filzstiefel scheuerte seine Waden durch die Hose hindurch blutig.
    Dieser Schmerz war alles, was ihm von seiner Kindheit geblieben war. Schmerz und der brennende Wunsch, sich an allen zu rächen, die über ihn gelacht und ihn gehänselt hatten.
    »Das sind keine Menschen, das sind Tiere«, flüsterte seine Mutter, wenn sie ihn nach einem Angriff Gleichaltriger auf dem Hof oder in der Schule tröstete. »Du bist ein Mensch, sie nicht. Du bist besser, klüger und stärker als sie, und das spüren sie, darum verfolgen sie dich, mein lieber Junge.«
    Er spielte

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