In ewiger Nacht
genau wie dem Raubmörder geht es ihm um das Töten.«
»Aber es gibt doch bestimmte Typologien, jedenfalls im Westen.«
»Es gibt Versuche, solche Typologien zu erarbeiten, aber die Realität stellt sie immer wieder in Frage. Es kommt vor, dass Kriminologen und Psychiater zum Beispiel davon ausgehen, der gesuchte Täter sei auf jeden Fall jung und die Neigung zu Gewalt habe sich bereits in der Kindheit gezeigt, und dann stellt sich heraus, dass der Täter um die fünfzig oder gar sechzig ist.Bei uns in Russland gab es einen bekannten Fall, bei dem der Täter erst mit fünfundsechzig anfing zu töten und die Leichen zu zerstückeln. Bis dahin war er gesund und sozial angepasst; alle, die ihn kannten, beschrieben ihn als freundlichen, gutherzigen, bescheidenen Mann. Auch die Thesen von der schwierigen Kindheit, vom psychischen Trauma und vom Schädeltrauma stimmen nicht. Es gibt Triebtäter mit vollkommen normaler Kindheit und ohne jedes Trauma. Und andererseits führen Millionen Menschen mit erlittenen Traumata und schwieriger Kindheit ein friedliches Leben und werden nicht zu Mördern. Überhaupt – was nützen all diese Theorien und Typologien? Erst vor kurzem hat in Wologda ein Psychopath ein achtjähriges Mädchen vergewaltigt und getötet. Er konnte bereits Stunden später gefasst werden. Und wissen Sie, warum? Er kam gerade aus der Haftanstalt. Er hatte wegen Vergewaltigung eines drei Monate alten Kindes gesessen und wurde wegen guter Führung vorzeitig entlassen.«
»Schauen wir uns nun erst einmal den Beitrag an, den unser Reporter vorbereitet hat.«
Mischa lehnte sich entspannt zurück. Der Videoclip »Sei nicht traurig, Kätzchen!« wurde fast in voller Länge gezeigt. Dann folgten vergrößerte Fotos von der Leiche des Mädchens. Nur mit Mühe war darauf die Heldin des Clips zu erkennen. Aus dem Off berichtete der Reporter, wie man die Tote gefunden hatte, die junge Zeugin war zu sehen, einige Szenen aus dem Kriminalreport vom Morgen, der blasse Dima Solowjow; dann verdeckte eine Hand die Kamera, und eine leise, heisere Stimme sagte: »Kein Kommentar! Bitte behindern Sie nicht unsere Arbeit.«
Anschließend folgte eine Montage aus Amateurvideoaufnahmen. Shenja Katschalowa mit sechs, mit sieben, mit zehn Jahren. Ihre Mutter, eine große schlanke Blondine. Kindergeburtstag. Ein großer Plüschteddy, eine Torte mit Kerzen. Ein Tonstudio, Shenja mit Kopfhörern vorm Mikrophon, das lächelnde Gesicht ihres Vaters, ein Stück aus dem Song. Dannwieder ein Foto der nackten Leiche. Und die Stimme des Reporters: »Unmöglich, sich Shenja tot vorzustellen. Das ganze Land kennt und liebt sie. Wie viele wunderbare Songs hätte sie noch singen können? Shenjas Mörder ist noch auf freiem Fuß. Es ist nicht auszuschließen, dass Shenja nicht sein erstes und nicht sein letztes Opfer war. Unsere Sendung wird die Ermittlungen aufmerksam verfolgen.«
»Ich erinnere Sie noch einmal daran, zu Gast im Studio ist heute eine ständige Beraterin unserer Sendung, die Psychiaterin und habilitierte Medizinerin Olga Filippowa. Olga, wir haben eben über Serienmörder gesprochen. Was meinen Sie, haben wir es bei dem Mord an Shenja Katschalowa mit einem Serientäter zu tun?«
»Dazu lässt sich vorerst nichts Konkretes sagen. Ja, es gibt Hinweise auf einen sexuellen Charakter der Tat. Der entblößte Körper, das Babyöl.«
»Ich erinnere mich, dass es vor anderthalb Jahren ähnliche Fälle gab. In einem Zeitraum von sechs Monaten wurden drei Jugendliche getötet, zwei Mädchen und ein Junge. Genau wie Shenja wurden sie in einem Waldstreifen zwanzig Kilometer entfernt vom Moskauer Stadtring gefunden. Übrigens wurden die Opfer bis heute nicht identifiziert. Und der Mörder läuft noch frei herum. Vielleicht ist es derselbe?«
»Das ist nicht auszuschließen. Allerdings könnte es sich auch um eine Nachahmungstat handeln.«
»Das heißt?«
»In der Kriminalgeschichte hat es immer wieder Nachahmer von Serientätern gegeben, besonders, wenn in den Massenmedien viel über sie berichtet wurde. Mitunter wird die Handschrift eines Serientäters imitiert, um die wahren Motive zu verschleiern: Rache, Entführung mit dem Ziel der Erpressung. Bei den ersten drei Opfern handelte es sich um sogenannte soziale Waisen. Niemand hat sie gekannt oder vermisst. Shenja Katschalowa gehört eindeutig nicht in diese Kategorie. Offensichtlich ist bisher nur, dass sie ihren Mörder kannte undihm vertraute. Er hat den Mord geplant, er hatte das
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