In ewiger Nacht
Babyöl dabei, Handschuhe, eine Schere, um die Haare abzuschneiden, und vielleicht sogar ein Nachtsichtgerät.«
»Was meinen Sie – ist das Babyöl ein Ritual? Oder ein notwendiges Element für die sexuelle Erregung? Womöglich etwas, das mit Kindheitserinnerungen zu tun hat? Eine Art Symbol? Der Täter ist vermutlich pädophil?«
»Neben dem rituellen und dem sexuellen Aspekt hat das Öl auch eine ganz pragmatische Seite – es vernichtet Spuren. Der Mörder hinterlässt am Körper des Opfers immer Hautpartikel, Haare oder Körperflüssigkeit – Speichel, Schweiß, Blut, Sperma. Das Öl erschwert eine DNA-Analyse oder macht sie sogar unmöglich.«
»Aber solche Details kann doch nur ein Fachmann wissen! Wollen Sie sagen, dass der Mörder etwas von Kriminalistik versteht?«
»Informationen dieser Art sind jedermann zugänglich. Es gibt Fachliteratur, das Internet. Manche Psychopathen entwickeln ein großes Interesse für Kriminalistik, für Gerichtsmedizin und Chemie.«
»Wissen Sie, Olga, ich überlege mir gerade, dass wir beide womöglich gerade einen Mörder instruieren. Beim nächsten Mal wird er vielleicht ebenfalls eine Flasche Öl mitnehmen, um Spuren zu beseitigen.«
»Sie haben recht, bei Mordfällen mit sexuellem Hintergrund ist es manchmal besser, nicht zu viel darüber zu reden. Oft suchen die Täter die Aufmerksamkeit, wollen sich in den Nachrichten sehen. Wir sollten ihre Eitelkeit nicht unnötig anstacheln. Mitunter ist der Wunsch nach Ruhm das Hauptmotiv für einen Mord, und es kommt zu einer Kettenreaktion. Amerikanische Spezialisten sprechen derzeit von ganzen Mordepidemien, die durch Aufsehen in den Medien ausgelöst wurden. Aber manchmal funktioniert es auch umgekehrt. Professor Guschtschenko hat einmal in einer Livesendung einen Täter praktisch überführt. Der Mörderhatte im Studio angerufen, und Guschtschenko konnte ihn zu einem indirekten Geständnis bewegen.«
»Ja, ich erinnere mich an diesen Fall. Übrigens, das wollte ich Sie noch fragen – warum wurde die Gruppe von Professor Guschtschenko eigentlich aufgelöst? Warum scheiterte der Versuch, bei uns ein ähnliches Profiling-System zu installieren wie beim FBI? Sind unsere Psychologen und Psychiater etwa schlechter als die in Amerika? Können wir nicht ebenso professionelle Täterprofile erstellen und das Verhalten von Tätern vorhersagen? Immerhin hat die Gruppe in den fünf Jahren ihres Bestehens einiges erreicht.«
»Das müssen Sie nicht mich fragen. Es gab einen Wechsel an der Spitze des Ministeriums, und die Gruppe wurde nicht mehr finanziert.«
»Aha, ich verstehe. Das Übliche. Stupide Beamtenwillkür. Olga, unser Team hat die Absicht, im Mordfall Shenja Katschalowa eigene unabhängige Recherchen anzustellen. Ich lade Sie ein, dabei mitzuwirken.«
Im Umkreis des alten Lehrers, in seiner schäbigen Wohnung, waren deutlich die Stimmen von Engeln zu hören gewesen. Engel schauten von den Wänden herab, von den Fotos der Abschlussklassen. Der Lehrer war einer von denen, die Kinder an den Abgrund lockten. Jahrelang nährte er in ihnen die Illusion, es gäbe ein Leben da draußen, wo es doch nur Lüsternheit, Fäulnis und Gestank gab.
Der Wanderer hätte den Lehrer gern getötet. Beinahe hätte er die Beherrschung verloren und sich verraten; in den Augen des halbtoten, aber noch immer gefährlichen Hominiden war kurz das kalte Feuer des Verdachts aufgeblitzt.
Der kosmetische Kleber spannte die Haut an Kinn und Oberlippe. Er hätte den künstlichen Bart gern abgenommen, aber er musste sich gedulden; diese langwierige Prozedur konnte er nur zu Hause erledigen, und anschließend musste er sein Gesicht mit einer speziellen Lotion einreiben.
Er hatte seit seiner Kindheit eine empfindliche Haut, sie reagierteäußerst sensibel auf Tastreize, als fehle dieäußere Schutzschicht. Der Hemdkragen hinterließ eine rote Spur am Hals, in der Leiste hatte er juckende dunkelrote Narben von der Naht der Satinunterhosen, die noch immer nicht verheilt waren, obwohl er seit Jahren nur noch die teuerste weiche Unterwäsche trug.
Als Kind war er oft zu warm angezogen und ständig gefüttert worden. Seine Großmutter und seine Mutter hatten im Krieg viel gehungert.
Er war als Siebenmonatskind zur Welt gekommen und anfangs so blau gewesen, dass seine Mutter ihn im ersten Moment für schwarzhäutig hielt.
Seine Mutter war eine anständige, stille Frau, arbeitete als Ökonomin im Ministerium für Schwerindustrie und bewohnte zusammen
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