In ewiger Nacht
interessiert. Aber wem erzähle ich das, Sie als Pädagoge mit langjähriger Erfahrung wissen das natürlich.«
»Sie sind ja verrückt!« Rodezki stand abrupt auf. »Ich arbeite seit siebenunddreißig Jahren in der Schule, ich bin Verdienter Lehrer!«
»Beruhigen Sie sich!« Der Gast trat auf ihn zu und schaute ihm durch seine rauchigen Gläser in die Augen. »Warum sind Sie so nervös? Wie gesagt, ich hege nicht den geringsten Verdacht gegen Sie. Sie mit Ihrer pädagogischen Erfahrung, mit Ihrer Autorität sind über jeden Zweifel erhaben. Zumal es ja keinerlei Beweise gibt. Sie sind zufällig auf die Pornoseite gestoßen. Wer käme schon auf die Idee, dass Sie gezielt nach diesem Dreck gesucht haben, dass der Anblick eines nackten Mädchens, Ihrer Schülerin, in Ihnen andere Gefühle auslöst als Entsetzen und Empörung? Machen Sie sich keine Gedanken. Es gibt keine Beweise. Nur Gerüchte, Geflüster hinterm Rücken.«
»Hören Sie, ich verstehe nicht, warum sagen Sie das? Was für Gerüchte?«
Der Gast wich langsam zurück in den Flur, noch immer redend und lächelnd. Er stellte die Aktentasche auf den Boden, nahm seinen Mantel von der Garderobe, zog seine Handschuhe an, griff nach der Aktentasche und öffnete die Tür. Der alte Lehrer stand mitten im Zimmer und sah ihn an.
»Ich hielt es einfach für meine Pflicht, Sie zu warnen, aus Respekt vor Ihnen. Alles Gute. Passen Sie auf sich auf.«
Die Tür klappte zu. Rodezki stand noch eine Weile reglos, bis ein Asthmaanfall ihn zwang, ins Bad zu laufen, zu seinem Spray.
Neunzehntes Kapitel
»Doktor Filippowa, in den Massenmedien heißt es immer, im 21. Jahrhundert würde die Zahl der Serienmörder anwachsen. Was meinen Sie dazu?«
»Wir sollten zunächst die Terminologie klären. Serienmörder ist ein weiter Begriff. Jede Art von mehrfachem Mord, ob von einem Einzelnen begangen oder von einer Gruppe, kann man als Serie bezeichnen. Auch Auftragsmorde und Raubmorde sind eine Serie.«
»Ein Auftragskiller ist also ein Serienmörder.«
»Ja. Aber kein Triebtäter. Obwohl die Grenzen fließend sind. Ein Auftragsmörder kann beim Morden durchaus Befriedigung empfinden, ebenso ein Raubmörder. Übrigens geht sexuelle Gewalt mitunter auch mit Raub einher. Welches Motiv den Täter dabei stärker antreibt, ist schwer zu sagen. Jemandem sein Eigentum nehmen. Jemandem das Leben nehmen. Jemanden demütigen, misshandeln. Dahinter stehen vor allem Neid, Hass auf den anderen, der etwas besitzt, das man selbst nicht hat.«
»Triebtäter sind also vor allem neidisch?«
»Ja. Wie jeder Mörder von Kain an. Mord ist die äußerste, letzte Stufe von Neid. Und Neid ist das älteste aller Motive.«
»Aber in vielen Fällen sind die Opfer doch Prostituierte, Trinker, Drogensüchtige, Menschen vom unteren Rand der Gesellschaft, während der Mörder relativ gutsituiert ist und sozial weit über seinen Opfern steht. Worauf also sollte er neidisch sein?«
»Solche Täter haben eine andere Logik. Ihr Neid gilt demLeben, einer geheimnisvollen Energie, an der es ihnen mangelt. Dass sie sich ihre Opfer oft in den untersten Schichten suchen, hat einen ganz banalen Grund: Das ist einfacher und weniger gefährlich. Prostituierte sind in der Gesellschaft nahezu schutzlos. Sie sind leichter zu töten. Sich einem Unbekannten weitgehend auszuliefern gehört zu ihrem Beruf. Prostituierte leben oft nicht in ihrer Heimatstadt, sondern weit weg von ihren Angehörigen. Wenn eine Prostituierte verschwindet, wird sie selten vermisst, die Identifizierung ist oft schwierig. Übrigens vertreten amerikanische Kriminologen die These, jeder Mann, der regelmäßig Prostituierte aufsucht, sei ein verdeckter Psychopath oder, wie sie es nennen, ein Soziopath. Er neige zu Gewalt und Dominanz. Bei normalen Frauen fühle er sich unsicher, habe Angst, Schwäche zu zeigen, und vertrage keine Kritik.«
»Und was ist mit den missionarischen Psychopathen? Die glauben, sie reinigten die Gesellschaft vom Schmutz?«
»Die missionarische Idee ist ein sogenanntes Stellvertretermotiv. Genau wie Raubmord übrigens. Im Vordergrund steht immer das Töten, die Ekstase. Die persönliche Bereicherung oder die soziale Mission dienen als eine Art Begründung. Psychopathen sind in der Regel Megalomanen, das heißt, sie leiden an Größenwahn und möchten in den eigenen Augen gut dastehen. Ein Missionar stammt fast immer aus einem gebildeten Umfeld, hat studiert. Er möchte als ein uneigennütziges, höheres Wesen gelten. Doch
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