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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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Mühe hatte, auf den Füßen zu bleiben. Schließlich entdeckte er den fetten Kerl; er lehnte auf dem nach mittschiffs gehenden Geländer der Back, ließ eine gerade abgefeuerte Pistole fallen und griff sich in aller Ruhe eine neue aus einer Kiste, die er in der Beuge seines linken Armes hielt.
    Chandagnac zwang sich zur Ruhe. Er ging etwas in die Knie, um besser das Gleichgewicht wahren zu können, und als das Schiff für einen Augenblick in seiner Bewegung innehielt, weil es den äußersten Punkt seiner Krängung nach Backbord erreicht hatte, hob er eine der Pistolen, zielte sorgfältig auf die Mitte von Friends massigem Körper und drückte ab.
    Die Pistole ging los, der Rückstoß verrenkte ihm fast das Handgelenk, aber als der scharfe Rauch sich verzog, stand der fette Arzt immer noch da und feuerte seine Pistolen in das Gedränge der Matrosen unter sich.
    Chandagnac warf die abgefeuerte Pistole beiseite, nahm die verbleibende in beide Hände und ging, ohne sich dessen, was er da tat, ganz bewusst zu sein, so weit auf Friend zu, dass er die Entfernung zwischen ihnen halbierte, und feuerte schließlich aus nicht mehr als fünf Schritt Entfernung die auf Friends Bauch gerichtete Waffe ab. Der Dicke wandte sich, nach wie vor unverletzt, für einen Moment Chandagnac zu und bedachte ihn mit einem verächtlichen Lächeln. Dann nahm er eine neue Pistole aus seiner Kiste und visierte ein neues Opfer mittschiffs an. Obwohl es vor allem nach verbranntem Pulver, Angstschweiß und aufgerissenem Holz roch, nahm Chandagnac wieder den unverkennbaren Geruch von überhitztem Metall wahr.
    Einen Augenblick später legte Friend die Pistole unbenutzt wieder zurück in die Kiste, denn der Kampf war vorüber. Ein Dutzend Piraten hatten das Schiff geentert, weitere schwangen sich gerade über die Reling, und die überlebenden Matrosen hatten ihre Waffen fallen lassen.
    Chandagnac ließ seine Pistole ebenfalls fallen und zog sich langsam gegen die Steuerbordreling zurück, die Augen ungläubig auf die Piraten gerichtet. Sie waren fröhlich, ihre Augen und gelben Zähne blitzten in Gesichtern, die aus poliertem Mahagoni hätten sein können, und einige von ihnen sangen immer noch das Lied, das sie schon während der Verfolgungsjagd gesungen hatten. Sie waren gekleidet, so dachte Chandagnac benommen, wie Kinder, die man dabei unterbrochen hatte, die Garderobe eines Theaters zu plündern; und trotz ihrer offensichtlich vielbenutzten Pistolen und Schwerter und der verblassten Narben, die viele von ihnen auf Gesicht und Gliedern trugen, kamen sie Chandagnac – verglichen mit der kalten, methodischen Bösartigkeit Hurwoods und Friends – so unschuldig wild vor wie Raubvögel.
    Einer der Piraten kletterte so leichtfüßig die Leiter zum Poopdeck hinauf, dass Chandagnac wirklich überrascht war, als der Mann sich umdrehte und seinen Dreispitz zurückschob, sodass die tiefen Furchen auf seinen dunklen Wangen und das schon reichliche Grau in seinem wirren schwarzen Haar sichtbar wurde. Der Seeräuber ließ seinen Blick über die Männer unter sich schweifen und grinste, kniff die Augen zusammen und ließ seine Zähne blitzen.
    » Gefangene«, sagte er, und seine auf raue Weise fröhliche Stimme ließ sofort alle verstummen, » ich bin Philip Davies, der neue Kapitän dieses Schiffes. Ihr sammelt euch jetzt alle am Hauptmast und lasst euch von uns nach … versteckten Waffen durchsuchen, ja? Skank, du und Tholomew mit ein paar anderen geht nach unten und holt alle herauf, die noch dort sind. Mit Bedacht, bitte – für heute ist genug Blut vergossen worden.«
    Die acht Überlebenden der geschlagenen Mannschaft schlurften nach mittschiffs; Chandagnac schloss sich ihnen an, trat an den Mast und lehnte sich dagegen; er hoffte, dass sein unsicherer Gang eher den heftigen Bewegungen des Schiffs als seiner Angst zugeschrieben werden würde. Chandagnac sah, wie hinter dem Anführer der Piraten die Möwe – offensichtlich beruhigt durch die Einstellung des Feuers – wieder herbeigeglitten kam und sich auf einer der Hecklaternen niederließ. Es war schwer vorstellbar, dass er und Hurwoods Tochter vor weniger als einer halben Stunde dem Vogel müßig Brot zugeworfen hatten.
    » Master Hurwood!«, rief Davies. Einen Augenblick später fügte er hinzu: » Ich weiß, dass Ihr nicht getötet worden seid, Hurwood – wo seid Ihr?«
    » Verdammt, nein«, ließ sich eine keuchende Stimme hinter einigen Leichen am Fuß der Leiter zum Poopdeck vernehmen. » Ich

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