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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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seines Vaters erfahren hatte, und er hatte die Frau reichlich mit dickflüssigem holländischem Gin bewirtet, um sie dazu zu bringen, ihr schwaches Gedächtnis nach dem alten Puppenspieler zu durchforschen, dessen Leichnam vier Tage zuvor ihre Treppe hinuntergetragen worden war. Schließlich hatte sie sich an den Zwischenfall erinnert. » Ah, oui«, hatte sie gesagt und dabei gelächelt und genickt, » oui. C’etait impossible de savoir si c’etait le froid ou la faim.« Sein Vater war entweder erfroren oder verhungert, und es war niemand dagewesen, der bemerkt hätte, welche Todesart ihn nun wirklich ereilt hatte.
    Jack Shandy hatte keinen wirklichen Plan, keine konkrete Vorstellung von dem, was er tun würde, wenn er nach Port au Prince kam – obwohl er jedenfalls den Totenschein seines Vaters mitgenommen hatte, um ihn den französischen Behörden in Haiti vorzulegen. Sein Rechtsanwalt hatte ihm gesagt, es sei so gut wie aussichtslos, aus einem europäischen Land heraus in der neuen Welt Anklage zu erheben und einen Prozess zu führen, und er solle dort vor Gericht gehen, wo sein Onkel Sebastian lebte. Er konnte nur erahnen, auf welche Probleme er stoßen würde, welche Schwierigkeiten er dabei haben würde, eine Anklage wegen krimineller Machenschaften als ein Fremder gegen einen vermutlich angesehenen Bürger durchzusetzen. Ferner musste ein einheimischer Anwalt mit der Angelegenheit betraut werden, es musste festgestellt werden, ob und wenn ja, gegen welche einheimischen Gesetze verstoßen worden war … Er wusste einfach, dass er seinen Onkel mit dessen Schuld konfrontieren musste, dass er den Mann wissen lassen musste, dass sein Verbrechen entdeckt worden war und zum Tod des betrogenen Bruders geführt hatte …
    Shandy zog die Riemen durch und beobachtete, wie seine Armmuskeln sich bewegten. Er gestattete sich ein grimmiges Lächeln. Neben einer zusätzlichen Kanone, Pulver und Kanonenkugeln waren für die Zauberei nötige Gerätschaften, die Werkzeuge des Vodun oder Voodoo, an Bord der Carmichael gebracht worden, und eine bestimmte magische Prozedur erforderte den Einsatz eines großen Spiegels. Eine andere Piratenmannschaft hatte mehrere erbeutet und einen davon an Trauerkloß verkauft, Davies’ wichtigsten Bocor, und Shandy war die Aufgabe zugefallen, das Ding an Bord zu bringen. Während er diese Aufgabe erfüllte, hatte er zufällig direkt in den Spiegel geschaut – und sich selbst einen Moment lang tatsächlich nicht wiedererkannt und gedacht, er sehe hinter dem Glas einen Piraten.
    Die Wochen der Überholung der Carmichael hatten seine Schultern breit werden lassen und seine Taille schmal und sie hatten ihm einige neue Narben auf seinen Händen beschert. Er begriff, dass er aufhören musste, sich selbst als unrasiert anzusehen, und einfach zugeben sollte, dass er einen Bart hatte – von der Sonne gebleicht in unregelmäßigen blonden Strähnen, genau wie sein Haar, das er jetzt der Bequemlichkeit halber zu einem geteerten Pferdeschwanz zurückgebunden trug. Aber der eigentliche Grund, warum man ihn von den wilden Männern um ihn herum nicht mehr unterscheiden konnte, war die tiefe, zigarrenfarbene Bräune, die er sich in wochenlanger Arbeit mit bloßem Oberkörper unter der tropischen Sonne zugezogen hatte.
    Er zog den linken Riemen etwas kräftiger durch, um das Boot zum Strand zu steuern, und als er über die rechte Schulter schaute, sah er, dass Skank und die anderen neben dem Stapel von Platten aus Carrara-Marmor auf ihn warteten. Der Stapel war sichtlich niedriger geworden, als er es an diesem Morgen gewesen war. Hinter ihnen führte der weiße Strand, blendend im grellen Licht des Nachmittags, zu einem Durcheinander von Zelten und Hütten hinauf, und dahinter lag der Dschungel. Eine Frau in einem zerlumpten purpurnen Kleid trottete am Rand des Waldes entlang.
    Venner watete hinaus, als Shandy das Boot ins flache Wasser gepullt hatte, und Shandy stieg über den Dollbord und half ihm, das Boot auf den Sand zu ziehen.
    » Ich könnte die nächsten Ladungen hinüberbringen, wenn du müde wirst, Jack«, erklärte Venner, sein Lächeln so konstant wie der Sonnenbrand auf seinen breiten Schultern. Hinter ihm stand Mr. Bird, der Schwarze, der regelmäßig annahm, dass irgendjemand ihn einen Hund genannt hatte.
    » Nein, das geht schon in Ordnung, Venner«, erwiderte Shandy und ging in die Hocke, um die oberste Marmorplatte zu ergreifen. Er hievte sie hoch, stapfte mit steifen Beinen und verzerrtem

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