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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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glauben.«
    Einige der Navy-Matrosen, größtenteils jüngere, kicherten über diesen Aberglauben.
    Eine lange, zähe Minute später – sie humpelten gerade an der vorderen Ladeluke vorbei – sah Shandy buchstäblich, wie sein unwilliger Gefährte endlich begriff, was in den nächsten Minuten geschehen würde.
    » Ich werde nicht zögern«, stieß Shandy hervor, aber der Offizier hatte die Füße des Kapitäns plötzlich fallen lassen und lief zurück in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
    » Es ist ein Betrug!«, brüllte er. » Davies ist unten und legt Lunte an das Pulvermagazin!«
    Shandy stieß einen beinahe erleichterten Seufzer aus, denn die stumme Anspannung war endlich vorüber. Schnell, aber vorsichtig ging er in die Hocke, schlug die Decke zurück und rollte Kapitän Wilsons Leiche klatschend aufs Deck, schob die Waffen mit dem Fuß wieder auf den Stoff, fasste es wie einen Sack zusammen … und hielt dann für einen Moment inne und sah sich um.
    Nur einer der umstehenden Matrosen hatte die Situation erfasst und richtete eine Pistole auf ihn. Shandy feuerte auf ihn, ohne zu zielen – schoss daneben, verdarb ihm aber das Ziel, sodass die für ihn bestimmte Kugel hinter Shandy die Reling zersplitterte –, und dann lief er mit seinem Bündel so schnell er konnte zum Vorschiff.
    Schüsse krachten und knallten, er hörte Pistolenkugeln vorbeizischen und spürte, wie eine gegen sein Bündel prallte. Unmittelbar vor dem erhöhten Deck des Vorschiffs, der Back, warf er das Bündel zu den erstaunten Piraten hinauf und ließ sich vom Schwung der Bewegung seitwärts bis zum Niedergang mitreißen.
    Mit einem Geräusch wie schnelle Hammerschläge durchschlugen zwei Pistolenkugeln die Wand zur Back, wo er gerade noch gewesen war.
    Schon hatte er einen Fuß auf der Leiter, dann war er auf der Back und riss den Kasten mit den Duellpistolen auf. » Auf die Jenny!«, stieß er hervor, nahm hastig die beiden Pistolen aus dem mit Samt ausgeschlagenen Kasten und wandte sich wieder dem Mitteldeck zu.
    Aber bevor er entscheiden konnte, auf wen er schießen sollte, wurde er auf die Knie geschleudert, als das ganze Schiff einen heftigen Satz nach vorn machte, ein tiefer Donnerschlag die Luft bis hinauf zu den Mastspitzen erschütterte und das gesamte Heck des Schiffs sich nach oben und außen wölbte, um sich gleich darauf in einer hoch emporschießenden Wolke aus Staub und Rauch und fliegenden Hölzern aufzulösen. In einem Umkreis von Dutzenden von Schritten an Backbord und Steuerbord wurde die brodelnde See von der plötzlich aufschießenden Wolke überschattet und gesprenkelt von den Aufschlägen herabfallender Trümmerstücke. Ein langer Donnerschlag hallte über den Wellen wider.
    Dann begannen die Masten herunterzukommen, zuerst mit einem Klatschen von Leinen, das, obwohl so laut wie Pistolenschüsse, im fortgesetzten Brüllen der Explosion kaum zu hören war. Dann mit einem schwerfälligen Rauschen durch die rauchige Luft, dem Reißen der Sicherheitsnetze und schließlich dem Splittern und dumpfen Poltern der auf das Deck schlagenden Rahen und Mastbäume.
    Das Deck, auf dem Shandy hockte, lag nicht länger waagerecht – es neigte sich zum Heck hinunter, und noch während er es bemerkte, wurde die Neigung stärker. Er suchte nach Halt und ließ beide Pistolen fallen. Auf Händen und Knien kroch er die Schräge des Decks hinauf zur Steuerbordreling und packte eine von deren Stützen.
    Er schaute nach achtern, und das hieß nach unten. Die achtere Hälfte des Schiffes war wahrscheinlich unter Wasser, aber die zerrissenen und zerknitterten Segel – und hinter ihnen der dichte Rauch – machten es unmöglich, sich sicher zu sein. Kapitän Wilsons Leichnam war anscheinend weggerollt, während er nicht hingeschaut hatte, aber er sah eine der nicht abgefeuerten Duellpistolen im Nichts verschwinden. Überall um ihn herum konnte er Luft zischend aus dem Rumpf entweichen hören und es regnete immer noch größere und kleinere Holz- und Metallsplitter.
    Irgendjemand schüttelte ihn am Arm, und als er aufschaute, sah er, dass es Davies war. Dessen Navy-Jacke war in Fetzen gerissen, und er saß rittlings auf der Reling und rief ihm etwas zu. Shandy konnte die Worte nicht ausmachen, aber es war klar, dass Davies wollte, dass er ihm folgte, daher kletterte Shandy auf die Reling.
    In dem kabbeligen Wasser unter ihnen schaukelte die Jenny, befreit von allen bis auf eine der Leinen, die sie mit dem untergehenden Kriegsschiff

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