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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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zottligen Kopf in den Nacken legte und ein ohrenbetäubendes, raues Heulen ausstieß. Es war ein schreckliches Geräusch, der Herausforderungsschrei eines gigantischen Reptils; Shandy spürte darin eine Verwandtschaft zu den Wölfen, die er in seiner Jugend gelegentlich aus großen Entfernungen über nördlichen Eisfeldern hatte heulen hören.
    Das Trio, das Beth trug, war stehengeblieben. Shandy hockte angespannt schräg hinter Schwarzbart, und Davies, mit ausdrucksloser Miene, aber sichtlich bleich im Licht von Hurwoods Fackel, stand auf dessen anderer Seite, das Schwert gezogen und bereit.
    Ein plötzlicher Wind wehte das Echo von Schwarzbarts Heulen davon und anschließend war nur noch das Gewisper der Pilzköpfe zu hören. Alle Vögel waren verstummt.
    Jäh begriff Shandy, dass die Pilzköpfe die Augen geöffnet hatten und in menschlichen Sprachen redeten; der Pilzkopf, der ihm am nächsten war, beklagte sich auf Französisch darüber, wie grausam es war, dass eine alte Frau von ihren Kindern vernachlässigt wurde, und einer in Davies’ Nähe erteilte mit schwer schottischem Akzent die Art von Rat, die ein Vater seinem Sohn geben würde, bevor dieser zum ersten Mal in eine große Stadt reiste. Shandy musterte den Pilzkopf staunend, der vor jeder Art von Meinungsäußerung zum Thema Religion oder zum jüngsten Königsmord warnte. Königsmord? Shandy stutzte; hatte jemand während des letzten Monats König Georg getötet oder sprach dieses Ding die Ermordung von Jakob dem Ersten an, die ein Jahrhundert zurücklag?
    Schwarzbart senkte langsam den Kopf und funkelte einen mit Beeren bedeckten Lorbeerbaum vor sich an. Ein weit ausholender Schlag mit dem Entermesser machte aus dem Baum einen wohlriechenden Stumpf; dahinter standen keine weitere Pflanzen; sie blickten in die Dunkelheit, eine kühlere Brise wehte ihnen entgegen, und über dem fernen Horizont lag ein schwacher Schein wie von einer hell beleuchteten Stadt.
    Schwarzbart fluchte abermals, dann trat er durch die Lücke, und einen Moment später tat es ihm sein Bootsmann nach. Shandy und Davies tauschten einen Blick, zuckten die Achseln und folgten ihnen.
    Der Dschungel lag hinter ihnen, und vor ihnen erstreckte sich unter dem unverhüllten Mond eine flache Ebene, und gut zweihundert Schritt voraus erhob sich die Einfassungsmauer eines runden Beckens, das einen größeren Durchmesser zu haben schien als das römische Kolosseum. Über der weit entfernten Mitte des Teiches hing ein säulenförmiger, heller Schimmer, in dem eine langsam aufsteigende sowie eine herabsinkende Bewegung auszumachen war. Shandy blickte wie gebannt auf diese Lichterscheinung und begriff dann mit einem Krampf im Bauch, dass er keine Ahnung hatte, wie weit sie entfernt war; in einem Moment schien es sich um Buntglasschmetterlinge zu handeln, die im Licht von Hurwoods Fackel in leichter Armesreichweite schimmerten; aber im nächsten Moment war das Ganze ein astronomisches Phänomen, das sich weit jenseits der Bahnen von Sonne und Planeten abspielte. Mit dem Becken selbst verhielt es sich ähnlich – aus welchem Blickwinkel er es auch immer betrachtete, er musste schließlich zugeben, dass er kaum Anhaltspunkte hatte zu sagen, wie hoch der umgrenzende Wall eigentlich war. Weit außen auf der rechten und linken Seite erhoben sich schlanke Brücken oder dergleichen von dem Wall in hohen Bögen zur Mitte des Teiches hin, verloren sich aber auf dem Weg dorthin oder waren zumindest von ihrem Standpunkt aus nicht ganz zu sehen.
    Die Schnallen von Shandys Stiefeln waren jetzt sehr heiß. Er verbrannte sich die Hand, als er sein Messer zog, schaffte es aber, indem er sich zuerst auf ein Knie und dann auf das andere niederließ, die Schnallen abzutrennen. Er richtete sich wieder auf und versuchte zu ignorieren, wie die Lederscheide qualmte, als er das Messer zurücksteckte. Er fragte sich, wann er angefangen hatte, die Nägel zu spüren, die die Sohlen seiner Stiefel hielten. Gott sei Dank hatte Schwarzbart Pistolen verboten.
    » Viel weiter als bis hierher bin ich damals nicht gekommen«, sagte Schwarzbart leise. Er drehte sich zu Davies um und grinste. » Geh nur – geh zum Rand des Beckens.«
    Davies schluckte, dann machte er einen Schritt nach vorn.
    » Halt!«, rief Hurwood hinter ihnen. Er, Friend und Bonnett waren gerade durch die Lücke gestolpert und mit Beth mehr oder weniger sanft auf den dunklen Sand gesunken. Hurwood war der Erste, der sich wieder aufsetzte. » Die scheinbaren

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