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In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
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betrachtete die Lichtmuster, die sie auf den Sand warf. Nach einigen Sekunden nickte er und setzte sich in Bewegung, in eine Richtung, die ihn geringfügig von dem Brunnen wegführte.
    Friend schaffte es, mit Beth’ schlaffer Gestalt über den Schultern aufzustehen, obwohl sein Gesicht dunkel vor Anstrengung wurde. Er stapfte schwer schnaufend hinter Hurwood her. Der Rest der Gruppe folgte, Bonnett und der seltsame Bootsmann unsicheren Schritts als Letzte.
    Es war kein gleichförmiger Marsch. Immer wieder hielt Hurwood inne, um die Lichtstreifen zu betrachten und mit Friend grimmig mathematische Spitzfindigkeiten zu diskutieren, und einmal hörte Shandy, wie Friend ihn auf einen Irrtum in einer seiner » schwarzen Newtonschen Gleichungen« hinwies. Mehrmals ließen sie die ganze Gruppe scharfe Wendungen vollführen und lange Zeit marschierten sie einfach alle wieder und wieder in einem Quadrat herum. Aber Shandy hatte bemerkt, dass der Mond ungeachtet ihrer scheinbaren Richtung seine Position über seiner linken Schulter niemals veränderte. Es machte ihn schaudern, und er verspürte nicht die Versuchung, weitere ketzerische Bemerkungen zu machen.
    Die Fackel, die Hurwood in den Sand gesteckt hatte, sahen sie ebenso oft vor sich oder zu einer Seite wie hinter sich. Aber wann immer Shandy sie betrachtete, schien sie ihm weiter entfernt zu sein als zuvor. Der Jungbrunnen selbst ließ sich nur so schwer in den Blick nehmen, dass Shandy nicht feststellen konnte, ob sie ihm näher kamen. Allerdings bemerkte er, dass die beiden brückenähnlichen Gebilde näher zusammengerückt waren.
    Dann fielen ihm die Menschenmengen auf. Zuerst hatte er sie für tiefhängende Nebelbänke oder Wasserflächen gehalten, aber als er sich auf die ungleichmäßigen, grauen Linien am Horizont konzentrierte, sah er, dass sie aus Tausenden von Gestalten bestanden, die stumm hin und her eilten und mit den Armen über den Köpfen ruderten, sodass sie aussahen wie im nächtlichen Wind wogendes Gras.
    » … dass ich nimmermehr geglaubt«, meinte Hurwood leise und hielt in seinen Berechnungen inne, um zu den fernen Massen hinüberzublicken, » dass je der Tod so vieles Volk verschlungen.«
    Das Inferno, dachte Shandy – dritter Gesang, wenn er sich nicht täuschte. Aber wen kümmerte das in diesem Augenblick schon?
    Die Brücken waren jetzt sehr dicht beieinander, und der Himmel hellte sich in einer Richtung, die vielleicht Osten sein mochte, auf. Hurwoods Lichtstreifen waren auf dem Sand – der im schwachen Tageslicht eine rostrote Tönung angenommen hatte – nicht mehr sehr deutlich zu erkennen, und Hurwood und Friend arbeiteten schneller. Die Mengen von Gestalten, die sich wie Vogelschwärme über der Mitte des Beckens senkten und hoben, verloren ihre Farbe und wurden grau und hatten jetzt mehr Ähnlichkeit mit Wolken feinster Wassertröpfchen als mit Flammen. Zu Tagesanbruch wirkte die totale Stille noch unheimlicher – weder Vögel noch Insekten gaben irgendeinen Laut von sich, und sowohl die rastlosen Mengen als auch der Jungbrunnen selbst blieben absolut stumm. Es war kühler geworden, seit sie den Dschungel hinter sich gelassen hatten, aber Shandys Füße wurden von den Eisennägeln in seinen Stiefelsohlen gewärmt, und es war leicht, sich die Hände zu wärmen, indem er sie über seine schwelende Messerscheide hielt.
    Er hatte sich gerade nach dem fernen Punkt umgedreht, zu dem die Fackel zusammengeschrumpft war, und so stieß er mit Hurwood zusammen, als die Gruppe stehen blieb.
    Es gab jetzt nur noch eine Brücke und sie standen direkt davor. Sie war ungefähr zwei Schritt breit und gepflastert mit breiten, flachen Steinen. Steinmauern erhoben sich bis auf Schulterhöhe zu beiden Seiten. Obwohl die Brücken aus der Ferne den Eindruck gemacht hatten, als wölbten sie sich steil vom Rand des Beckens empor, erschien diese eine Brücke Shandy beinahe eben und stieg nur ganz allmählich an, um sich der Entfernung entsprechend perspektivisch zu verjüngen und sich zwischen den wogenden Gischtwolken der Fontäne zu verlieren. Ungeachtet ihrer seltsamen Umgebung glaubte Shandy die Brücke schon einmal gesehen zu haben.
    » Nach Euch«, sagte Hurwood zu Schwarzbart.
    Der hünenhafte Pirat, dessen Gürtel und Stiefel, wie Shandy bemerkte, schwelten und funkelten wie die Lunten in seiner Mähne, trat auf die Brücke …
    … und schien zu explodieren. Undeutliches graues Geflatter brach aus seinem Mund, seiner Nase und seinen Augen und schoss

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