Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
In fremderen Gezeiten

In fremderen Gezeiten

Titel: In fremderen Gezeiten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Powers
Vom Netzwerk:
schon.« Er kehrte ihnen den Rücken zu und schritt voran.

Kapitel 13
    Für eine ganze Weile gingen sie wortlos und dumpfen, lautlosen Schritts auf den Steinen der Brücke weiter. Um sich abzulenken und seine Neugier zu befriedigen, begann Shandy stumm seine Schritte zu zählen; er war bis über zweitausend gekommen, als das Licht langsam wieder blasser wurde. Allerdings hätte Shandy nicht sagen können, wie lange genau die Morgendämmerung gedauert hatte.
    Sie schienen jetzt abwechselnd über hell erleuchtete und über im Schatten liegende Bereiche der Brücke zu gehen, und für einen Moment glaubte Shandy, Weihrauch zu riechen. Hurwood wurde etwas langsamer und Shandy sah ihn an.
    Es war, als gingen sie durch den Mittelgang einer Kirche. Hurwood trug eine lange, förmliche Jacke, und sein Haar war braun, lang und sorgfältig gelockt, aber der Rest von ihnen war immer noch in die schlammverkrusteten, zerlumpten, versengten Kleider gehüllt, in denen sie aus dem Dschungel gekommen waren. Hurwood hatte eine Hand auf dem Holzkasten liegen, der an seiner Seite hing, und die andere Hand schwang hin und her, während er gemessen den Gang entlangschritt …
    Er hat seinen anderen Arm zurück, dachte Shandy mit einem traumähnlichen Mangel an Überraschung.
    Shandy schaute nach vorn, zum Altar. Ein Priester irgendeiner Konfession lächelte, als ihre unsaubere Schar ihm entgegenkam, aber ein Messdiener, der seitlich vom Altar kniete, starrte sie mit weit größerem Grauen an, als selbst ihr verwüstetes Äußeres zu rechtfertigen schien. Nervös schaute Shandy sich um …
    … und sah nur die Brücke und die Ebene weit dahinter, jetzt in den tiefen Schatten des Zwielichts. Er drehte sich wieder zu der Kirchenszene um, aber sie verblasste bereits. Shandy roch noch eine Spur Weihrauch, dann war die Brücke wieder einfach die Brücke.
    Was war das, fragte er sich. Ein Blick in Hurwoods Geist, in seine Erinnerungen? Hatten Davies und Schwarzbart es ebenfalls gesehen, oder war er der Einzige, weil er zufällig gerade in seine Richtung gesehen hatte, als Hurwood das Bild aussandte?
    Auf den Pflastersteinen vor ihnen waren Blutspritzer, und als er sie erreichte, bemerkte Shandy, dass die Tropfen und Flecken und Handabdrücke Spuren von zwei blutenden Menschen zu sein schienen, die über den Boden gekrochen waren. Er hielt für einen Moment inne, um sich hinzuhocken und einen großen Tropfen mit ausgefransten Rändern zu berühren – das Blut war noch feucht. Das regte Shandy aus irgendeinem Grund ungemein auf, obwohl er zugeben musste, dass es verglichen mit dem Rest der jüngsten Ereignisse gewiss eine geringfügige Unannehmlichkeit war. Vor ihnen konnte er niemanden erkennen, der sich blutend dahinschleppte, aber Shandy erfüllten trotzdem böse Vorahnungen.
    Die von Anfang an nicht besonders frische Luft war jetzt restlos schlecht geworden – Shandy roch gekochten Kohl und schmutzige Bettlaken. Er schaute einen seiner Gefährten nach dem anderen an. Um Friend nahm gerade eine weitere Szene klare Umrisse an. Der fette Mann war jünger, noch ein Knabe, und obwohl er mit Shandy und den anderen Schritt hielt, lag er in einem Bett. Shandy folgte dem Blick des Jungen nach oben und sah zu seiner Verblüffung vage weibliche Gestalten in durchscheinenden Gewändern, die sich langsam über ihm bewegten. Die Gestalten waren von einer naiv übertriebenen Erotik wie die primitiven Bilder von nackten Frauen, die ein kleiner Junge vielleicht an eine Wand malen würde … aber warum hatten sie alle graues Haar?
    Die Szene löste sich in einem Wirbel von Weiß auf, und wieder war die Brücke da und sichtbar mit schulterhohen Mauern zu beiden Seiten. Shandys Fuß rutschte auf etwas aus, das sich wie ein Kieselstein anfühlte – aber er wusste, dass es ein Zahn war, und dieses Wissen verstärkte sein Unbehagen.
    Dann hatten sie tiefen Sand unter ihren Füßen und Davies’ Gesicht wurde vom Licht eines Feuers erhellt. Sein Gesicht war voller, sein Haar dunkler, als es Shandy kannte, und er trug die zerlumpten Überreste der Unifomjacke eines Offiziers der Royal Navy. Shandy schaute sich um und sah, dass sie am Ufer von New Providence entlanggingen; die Schweinsinsel war vage sichtbar jenseits der von Sternen beschienenen Bucht zu ihrer Rechten, und Kochfeuer sprenkelten den sandigen Hang zur Linken – aber es waren nur wenige Feuer und wenige Boote im Hafen, und einige große Wracks auf den Sandbänken in der Bucht, an die Shandy sich

Weitere Kostenlose Bücher