In Furcht erwachen
außerdem zwanzig Pfund Bares in seiner Brief‐
tasche, sein Erspartes vom letzten Semester. Ursprünglich hatte er hundert Pfund auf die Seite legen wollen, aber Bier
war teuer in Tiboonda, und man hatte hier nur die Möglichkeit, zu trinken oder sich das Hirn wegzupusten.
Trotzdem nahm er sich vor, das nächste Semester etwas
vorsichtiger anzugehen. ‹Das nächste Semester!› Der Ge‐
danke daran machte ihn nervös, ‹das nächste Semester›.
Sechs Wochen, und ein weiteres Jahr in Tiboonda nahm
seinen Anfang. Ein weiteres Jahr in diesem Witz von einer Stadt, als Außenseiter unter Leuten, die sich heimisch fühlten in dem öden, furchteinflößenden Land, das sich um
ihn herum ausbreitete: heiß, trocken und gleichgültig
gegenüber sich selbst und den Menschen, die es angeblich besaßen.
Es war besser, nicht darüber nachzudenken. Es war bes‐
ser, an gar nichts zu denken, abgesehen vom Meer, das in seinen Gedanken wie ein Schatten auftauchte und ihm vorgaukelte, die Hitze abzuwehren, die sich mit glühenden,
spitzen Fingern durch seinen Schädel in die lebendigen,
empfindlichen Zellen seines Gehirns bohrten.
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Der Viertel‐nach‐vier‐Zug ließ sich Zeit, in Tiboonda
anzukommen. Er wurde auch Freitagszug genannt, um ihn
vom Montagszug zu unterscheiden. Die beiden Züge waren
die einzige Verbindung Tiboondas mit der Außenwelt,
sprich Bundanyabba, abgesehen von der Straße, die weder
bei Regen noch bei Trockenheit befahrbar war, denn die
Autos blieben im Staub genauso hoffnungslos stecken wie
im Schlamm.
Der Freitagszug bestand aus einem Dutzend Güterwa‐
gen und zwei Waggons für Passagiere. Die Lokomotive war eines jener prächtigen Ungetüme, die man nur in den ab-gelegeneren Gebieten des Commonwealth antrifft und die
den Lehrer jedesmal an amerikanische Western erinnerte,
in denen die Indianer einem solchen Gefährt hinter herjagten.
Noch bevor der Zug zum Stehen kam, konnte er das
Singen hören. Im Westen singen sie in jedem Bummelzug,
die Viehzüchter und Minenarbeiter, die Ladenbesitzer,
die herumziehenden Arbeiter und die Aborigines und
Mischlinge, die erst in den Vororten schüchtern einstim‐
men. Einer hat immer eine Mundharmonika dabei, und mit
verzweifelter, unmelodischer Fröhlichkeit singen sie die
Songs der amerikanischen Hitparade, die aus dem Netz des
australischen Rundfunks oder der störungsgeplagten loka‐
len Radiosender sickern.
Draußen in den Wüsten, hinter dem Dröhnen und
Stampfen der alten Lokomotiven, sorgten die banalen
Worte und abgedroschenen Melodien des modernen Ame‐
rika dafür, daß die Dingos erstaunt ihre Ohren spitzten und
damit die Traurigkeit, die das australische Hinterland
durchdringt, ins Unermeßliche steigerten.
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Die Sänger hatten sich alle im vorderen Waggon ver‐
sammelt. Der Lehrer stieg ganz hinten ein; er wollte nicht singen. Abgesehen von einem Aborigine, einem Viehhüter
mittleren Alters mit weißem Haar und weißen Bartstop‐
peln, war das Abteil leer. Der Mann war ein Vollblut mit den breiten Gesichtszügen seines Volkes; er starrte unablässig aus dem Fenster, als könnte er da draußen in der Prärie
etwas entdecken, das er noch nicht gesehen hatte.
Der Lehrer kannte die Prärie, er hatte die Fahrt nach
Bundanyabba früher schon gemacht und wußte, daß sich
die Landschaft auf der bevorstehenden sechsstündigen
Reise so wenig veränderte, daß man glauben konnte, der
Zug hätte sich keinen Meter vom Fleck bewegt.
Er hievte seine Koffer ins Gepäcknetz, öffnete das Fen‐
ster und streckte sich auf einem Sitz aus, die Füße auf die Armlehne gelegt.
«There is a heart that’s made for you», leierten die
Sänger.
«A heart that needs your love divine,
A heart that could be strong and true,
If only you would say you’re mine.
If we should part my heart would break,
Oh say that this will never be,
Oh darling please, your promise make,
That you’ll belong to only me.»
Das also ist das Schicksal eines Sängervolkes, das schon lange vergessen hat, wie man Lieder macht, dachte der
Lehrer.
Als der Zug anfuhr, schloß er die Augen. Das Rattern der 19
Räder, das Geräusch der Maschine und das disharmonische
Gejaule der Sänger bildeten einen sinnlosen Rhythmus, zu dem er in den dem Koma verwandten Halbschlaf des Zug-reisenden sank.
Der Freitagszug schaukelte durch die Prärie. Ungefähr alle fünf Meilen tauchte eine baufällige Farm auf, und der
Lokomotivführer
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