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In Furcht erwachen

In Furcht erwachen

Titel: In Furcht erwachen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kenneth Cook
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Mona‐
    ten.»
    «Sie sind Lehrer, nicht wahr?» sagte die Sozialarbeite‐
    rin. «Warum setzen Sie sich nicht für einen Moment?»
    Grant setzte sich hin.
    «Zigarette?»
    Das war natürlich eine Idee. Im Krankenhaus hatte er
    sich keine wirklichen Hoffnungen auf eine Zigarette ge‐
    macht, und er hatte das Rauchen fast vergessen.
    «Danke.» Der erste Zug war köstlich, machte ihn aber
    schwindlig.
    «Das ist eine verdammt blöde Frage», sagte die Sozial‐
    arbeiterin, «aber es geht Ihnen doch wieder halbwegs gut, oder?»
    «Ja. Ziemlich, danke.»
    «Ich meine ...»
    «Oh, ich versteh schon.» Natürlich mußte die Sozialar‐
    beiterin aufpassen, daß Grant nicht losmarschierte und die ganze Arbeit des Krankenhauses zunichte machte, indem er
    sich erfolgreich das Hirn wegblies.
    «In dieser Hinsicht bin ich völlig in Ordnung, danke.
    Ich war nur pleite und hatte Mitleid mit mir selbst. Das ist jetzt vorbei.»
    «Ganz sicher?»
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    Grant überlegte einen Moment.
    «Ziemlich sicher. So sicher man in solchen Dingen sein
    kann.»
    Er lächelte.
    Die Sozialarbeiterin lächelte zurück.
    «Gut», sagte sie. «Was haben Sie für Pläne?»
    «Keine.»
    «Haben Sie Geld?»
    «Nein.» Wie viele Unterhaltungen dieser Art hatte die
    Sozialarbeiterin mit frustrierten Selbstmördern schon ge‐
    führt?
    «Wir haben eine Art Fonds hier, wissen Sie, um solche
    Angelegenheiten zu regeln», sagte sie, «ich könnte Ihnen eine Anleihe von zwanzig Pfund geben.»
    «Aber das ist doch bestimmt ungewöhnlich, oder
    nicht?»
    «Eigentlich nicht. Der Rotary‐Club führt den Fonds. Es
    besteht ein ganz schönes Bedürfnis danach. Können Sie
    eine Anleihe gebrauchen?»
    Grant fragte sich, ob das Angebot für jeden mittellosen Patienten des Krankenhauses galt oder nur für Möchtegern-Selbstmörder.
    «Ja. Könnte ich, danke.»
    Die Sozialarbeiterin gab ihm das Geld, und er unter‐
    schrieb ein Formular, auf dem er versprach, es innerhalb von sechs Monaten zurückzuzahlen, wenn er konnte.
    «Das war erledigt», sagte die Sozialarbeiterin, «und
    jetzt lass ich Sie gehen ...»
    ... Wie alle Züge im Westen blieb auch dieser Zug mitten im Nichts stehen, aus Gründen, die einzig der Lokomo‐
    tivführer kannte. Der abrupte Stillstand und das brutale 187
    Absinken des Lärmpegels hatten einen sonderbar einschlä‐
    fernden Effekt. Sogar die Sänger verstummten, und sie alle schauten in die stille Nacht hinaus. Grant wußte, daß dies einer jener Augenblicke war, an den er sich immer erinnern
    würde. Wie der Augenblick vor wenigen Stunden, da er
    das Krankenhaus verlassen hatte ...
    ... Aus den klimatisierten Zimmern in die Hitze hinaus‐
    zutreten kam ihm vor, als fange er das Leben neu an. Er stand auf der Treppe vor dem Krankenhaus und realisierte, wie isoliert und unwirklich sein Leben in dem Kranken-zimmer gewesen war. Durch den Umstand, nichts zu tun
    zu haben und von Leuten umgeben zu sein, die ihm sein Essen brachten, sein Bett machten, ihn sogar badeten, war er in den tranceartigen Zustand geraten, der Menschen er-faßt, die von jeder ernsthaften, unabhängigen Tätigkeit befreit sind, so wie Häftlinge im Gefängnis oder Soldaten in der Armee.
    Aber schon die erste Hitzewelle, die von der glühenden
    Straße an ihm hochschlug und aus dem grellen Dunst des Himmels auf ihn niederknallte, ließ ihn aus dieser Trance erwachen, und er wurde wieder zu John Grant, verant-wortlich für sich selbst.
    Was, wie er dachte, keine so schwerwiegende Angele‐
    genheit war, wie man vielleicht vermuten könnte ...
    ... Der Zug hatte sich wieder in Bewegung gesetzt und
    schaukelte mit neuerwachter Heftigkeit durch die Nacht,
    als sei er darauf bedacht, den Fehler, angehalten zu haben, wiedergutzumachen.
    Es wurde wieder gesungen, allerdings hatte es einen
    Stimmungswechsel gegeben, und jemand hatte angefan‐
    gen, auf einer Mundharmonika zu spielen. Als wollten sie für
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    dieses eine Mal zögerlich die schwere Bürde der Un‐
    glückseligkeit des Westens zugeben, sangen sie:

    «But hark there’s the wail of a dingo,
    Watchful and weird; I must go,
    For it tolls the death knell of a stockman
    From the gloom of the scrub down below.»

    Grant rutschte auf dem Sitz hin und her und zupfte an sei‐
    nen schweißgetränkten Kleidern, um sie von der Haut zu
    lösen. Er fragte sich, wie lange er das befriedigende Wissen aufrechterhalten konnte, etwas zu empfinden, selbst wenn
    es nur ein Gefühl des Unbehagens war. Nicht für lange,

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