In Gedanken bei dir (German Edition)
den Skype-Klingelton
spielte.
Nein,
Nick, nicht jetzt!
Sie
ließ es klingeln, öffnete die Tür und stieg aus. Als sie die Tür schloss, sah
sie durch die Scheibe Jolies rote Lackschachtel auf dem Rücksitz liegen. Ihre
Wunschbox. Ihr ungelebtes Leben.
Über
die Straße ging sie hinüber zu Alex’ Haus. Das Garagentor war geschlossen, und
sie konnte nicht erkennen, ob er da war.
Sie
könnte klopfen ... Sie könnte vor der Tür stehen ... Sie könnte sagen: Hi Alex.
Lange nicht gesehen. Wie geht’s dir so?
Nein.
Am
Haus vorbei führte ein Sandweg unter den Bäumen hindurch zum Bootssteg am See.
Ein Motorboot lag dort vertäut. Über dem Wasser kreiste ein Adler, eine
Entenfamilie paddelte um den Steg, und Cassie konnte Frösche hören. Und
Zikaden.
Sie
wandte sich zum Haus um. Eine Veranda mit weiß gestrichenen Schaukelstühlen,
wie schön. An der Brüstung lehnte eine Angelausrüstung. Die Treppe in den
Garten war völlig überwuchert – Wildnis pur. Das Gras im Garten wuchs kniehoch.
Unter den schattigen Bäumen stand in einem Meer von Pusteblumen ein altes
Autowrack. Ein Pickup aus den Fifties, ohne Lack, ganz rot vor Rost. Ein echtes
Schmuckstück. Ja klar, hier wohnte Alex.
Dann
sah Cassie den Ball neben den geplatzten Reifen.
Sie
blieb stehen.
Ein
Ball?
Durch
das Gebüsch tastete sie sich näher heran. Ja, tatsächlich. Und da war noch
mehr. Ein Baumhaus mit Kletterseil und Leiter. Eine Rutsche. Eine Schaukel.
Und
da lag ein Kinderfahrrad im hohen Gras.
Ihr
Herz krampfte sich schmerzhaft zusammen.
Alex
hatte eine Familie.
Wie
gelähmt starrte sie das Fahrrad an.
Er
hatte Kinder.
Und
Jolie? Und wenn er seine andere Tochter, die kranke, die bald sterben
würde, gar nicht kennenlernen wollte?
Cassie
zuckte schmerzhaft zusammen, als sie das Garagentor rattern hörte. Er war noch
hier!
Sie
stürmte los, den Sandweg entlang zur Straße.
Die
Garage war geschlossen. In der Ferne verklang Motorengeräusch.
Sie
hastete zur Straßenecke und sah ihn an ihrem Wildtrak vorbeifahren. Das
kalifornische Nummernschild hatte er nicht gesehen. Wieso auch? Er kannte den
neuen Wagen ja nicht. Er bog ab und war verschwunden.
Und
jetzt?
Ihm
folgen? Bis zum Mount St Helens? Und dann?
Alex
hatte Kinder.
Bleib
ruhig, Cassie. Überleg, was du jetzt tun willst.
Sie
ging zurück zu ihrem Auto und stieg ein. Dann nahm sie das Tablet aus der
Halterung und tippte Skype auf. Nick hatte keine Nachricht hinterlassen. Sie
würde ihn nachher anrufen, um ihm zu sagen, dass sie angekommen war.
Jetzt
klickte sie Google auf und suchte die Website des Silver Lake Resorts. Es gab
ein Waterfront Motel und einige Cabins. Okay, da stand eine Telefonnummer. Sie
rief im Resort an und buchte ein Zimmer. Für zwei? Nein, für sie allein. Wann
sie anreisen wollte? Jetzt.
Sieben
Minuten später lud Cassie ihr Gepäck aus dem Wildtrak und schleppte es auf ihr
Zimmer mit Seeblick. Den Mount St Helens konnte sie immer noch nicht sehen. Sie
warf ihre Sachen aufs Bett, stellte Jolies Wunschbox auf den Nachttisch, stopfte
die Scheidungspapiere in ihren ledernen Rucksack, zog sich die Wanderstiefel an
und machte sich auf die Suche nach Alex.
Das
Johnston Ridge Observatory am Mount St Helens kannte das Navi. Fünfundvierzig
Meilen, dreiundfünfzig Minuten, und Alex hatte eine halbe Stunde Vorsprung.
Vielleicht erwischte sie ihn dort. Auf einer Website des US Geological Survey
gab es ein Bild von ihm am Observatorium, im Hintergrund der Gipfel des Mount
St Helens.
Am
Toutle River entlang fuhr sie nach Osten. Im Hoffstadt Bluffs Visitor Center
versuchte sie ein Frühstück zu bekommen, aber das Restaurant war noch
geschlossen. Die Karte las sich jedoch toll: Salat, Fire Mountain Burger, Lava
Cake. Vielleicht würde sie hier zu Abend essen, bevor sie ins Resort
zurückfuhr. Und sich den Stapel Videos ansah, den sie im Gift Shop kaufte. Grand Canyon, Monument Valley,
Canyonlands, Arches. An
diesen Orten, über die Alex in seinen Forschungsabenteuern berichtete, waren
sie gemeinsam gewesen. So viele Erinnerungen ... so viele Gefühle ...
Sie
wollte schon gehen, da entdeckte sie im Regal noch einen Bildband, auch von
ihm. Alex in der Antarktis, Alex in Afrika, Alex in Australien, am Ayers Rock.
Hey, das Foto, auf dem er grinsend das Kängurubaby im Arm hielt, hatte sie
gemacht. Und das nächste auch. Und da stand es auch – Fotos: Dr Cassie Lacey.
Die
Fotos besaß sie gar nicht. Alex hatte die Foto-CD mitgenommen, als er sie
verließ. Okay,
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