In Gedanken bei dir (German Edition)
kleinen Schmetterlings,
der nie das Fliegen lernte.
Mommys
trauerten anders als Daddys. Die Wochen nach dem Tod ihres Kindes waren sehr
schwierig für Cassie, unbeschreiblich schmerzhaft, und sie zog sich immer mehr
in sich selbst zurück. Als Jolies Zustand nach einer Infektion wieder einmal
lebensbedrohlich wurde und Cassies Gefühle über ihr zusammenschlugen, trennte
sie sich von ihm. Für mehr als eine SMS fehlte ihr die Kraft. Fünf Zeilen, das
»Ich liebe dich« am Anfang und das »Ich werde immer an dich denken« am Ende
nicht mitgerechnet. In diesem Augenblick hatte Nick alles verloren, sein
Kind, auf das er sich gefreut hatte, die kleine Jolie, die er »ganz doll
liebhatte«, und die Frau, mit der er sein Leben verbringen wollte. Es hatte ihm
das Herz gebrochen.
Karen
wurde jetzt eingeblendet. Dr Karen Mayfield stand in Jolies Krankenzimmer und kommentierte
die gescheiterte Knochenmarktransplantation nach Coops tragischem Tod. Am
unteren Bildrand wurde jetzt Cassies Website help-jolie.com eingeblendet, und
Karen bat die Zuschauer, sich als Spender typisieren und registrieren zu
lassen, um Jolies Leben zu retten. Im Hintergrund erkannte Nick den
Infusionsständer mit dem Playmobil-Fallschirmspringer.
Jetzt
kam Jolie ins Bild. Sie saß auf Cassies Schoß und schmiegte sich an sie. In der
Hand hielt sie die kleine Figur, die sie an ihren Vater erinnerte. Aus dem Off
kam der Kommentar, professionell gesprochen, mitfühlend, aber reißerisch:
»Der
letzte Wunsch eines sterbenden Kindes: Ich will meinen Daddy wiederhaben! Der
kleinen Jolie Lacey bleibt nicht mehr viel Zeit. Ihre letzten Tage verbringt
sie im UCSF Medical Center in San Francisco. Ihr letzter Wunsch: Sie will ihren
Daddy umarmen, während sie stirbt. Aber wo ist ...«
Nick
fühlte sich, als bliebe sein Herz stehen. Der Schmerz wurde einfach
unerträglich.
Jolie
stirbt.
Er
hatte noch die Kraft, den Fernseher abzuschalten, bevor er in heiße Tränen
ausbrach.
3
Elf Stunden achtundvierzig Minuten.
Mit
beiden Händen am Lenkrad ihres roten Ford Ranger Wildtrak ließ Cassie die
verspannten Schultern kreisen. Sie war die ganze Nacht gefahren. Müde blinzelte
sie in das Licht des neuen Tages. Ein rascher Blick zur Uhr auf ihrem Tablet,
das in der Halterung neben dem Lenkrad klemmte: Es war kurz vor acht.
Vor
Stunden hatte sie mit Nick geskypt. Das erste Mal kurz vor Mitternacht. Sie war
gerade am Mount Shasta vorbeigerauscht, dessen schneebedeckter Gipfel im
Mondlicht durch das Gebüsch am Rand des Cascade Wonderland Highways schimmerte.
Nick hatte angerufen, um sich zu entschuldigen. Er hatte falsch reagiert, ja
klar. Aber die Nachricht, dass Jolie starb, übers Fernsehen zu erfahren ...
Dass ihr Kind, ihr kleiner Schmetterling – er konnte nicht weitersprechen, so
aufgewühlt war er immer noch ... Und jetzt auch noch Alex. Dass Jolie ihn
kennenlernen wollte, okay, er war ihr Daddy. Dass sie zum Mount St Helens fuhr,
um Alex von ihrer gemeinsamen Tochter zu erzählen, auch okay ... aber ...
Aber.
Das
ist es, dachte Cassie. Nick hat Angst, panische Angst. Dass Jolie stirbt, dass
Alex zurückkommt, dass ich mich in meinen Ex verlieben könnte, dass wir ...
Ach, verdammt!
Nein,
Nick hatte sich während der Nacht nicht wieder eingekriegt. Auch morgens um
drei, Cassie war schon nicht mehr in Kalifornien, sondern in Oregon, war er so
aufgewühlt wie gestern Abend, als er sich mit verschränkten Armen und
hochgezogenen Schultern gegen die Kommode lehnte, ihr zusah, wie sie einen
Stapel Klamotten in ihre Tasche stopfte, und leise, fast resigniert fragte:
»Wie lange willst du denn wegbleiben?«
Cassie
wusste nicht, was sie antworten sollte: Drei Tage, fünf, sieben? Bis sie so
weit war, Alex von seiner Tochter zu erzählen? Bis er bereit war, nach San
Francisco zurückzukehren? »Ich werde Jolie nicht sterben lassen, ohne ihr ihren
letzten Wunsch zu erfüllen.«
Eine
Weile hatte Nick ihr bei ihrer einsamen Fahrt über Skype Gesellschaft
geleistet. Kurz vor halb vier hatten sie im matten Licht ihres Tablets ein
virtuelles Candle Light Dinner genossen, mit der Sushibox auf dem Beifahrersitz
und leiser Musik. Und irgendwie war es schön. Na ja, nicht so romantisch wie es
ein Abend auf ihrem Hausboot gewesen wäre, aber doch berührend.
Wie
er versucht hatte, sie zu trösten! Von Jolie Abschied zu nehmen, war so schwer
gewesen. Cassie wusste nicht, ob sie ihrer Kleinen ihren sehnlichsten Wunsch
erfüllen
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