In Gedanken bei dir (German Edition)
realistisch gemalt,
verdeckte den Horizont. Am Himmel schwebte eine dunkle Wolke. Was wollte Jolie
mit diesem Bild ausdrücken? Sie flüchtete aus dem Wald auf die Wiese, ja klar,
sie lief vor der düsteren Wolke davon – aber wohin? Auf den Betrachter zu.
Okay. Sie winkte ihm zu. Und was hielt sie da in der Hand? Nick beugte sich
vor, um die feinen, fast durchscheinenden Pinselstriche anzusehen.
Die
Erkenntnis traf ihn wie ein schmerzhafter Stich ins Herz, und er rang keuchend
nach Atem. Die panische Angst schnürte ihm die Luft ab. Nick musste sich an der
Wand abstützen, sonst wäre er einfach umgekippt.
Die
feinen weißen Striche hinter Jolies Rücken waren Engelsflügelchen.
Jolie
hatte nicht das Leben gemalt, von dem sie träumte, ein Leben voller Freude und
ohne Schmerzen, nein, sie hatte den Tod gemalt, die Erlösung.
Nick
fühlte sich, als würde ihm sein Kind aus den Armen gerissen. Erschüttert stand
er vor dem Bild, unfähig sich abzuwenden, bis er eine warme Hand auf seiner
Schulter spürte.
»Hallo,
Nick.«
»Hallo,
Karen.«
Dr
Mayfield deutete auf Jolies Bild. »Bestürzend, nicht?«
»Wann
hat sie das gemalt?«
»Heute
morgen, nach der Blutabnahme.«
Nick
fiel es schwer, sich von Jolies Bild zu lösen und Karen anzusehen.
»Wie
geht’s dir eigentlich?«, fragte sie.
Das
war die schlimmste aller Fragen. Nick wusste eigentlich nie, was er antworten
sollte. Dass es ihm gut ging, dass er mit der Situation schon klarkam, dass er
die Hoffnung nicht aufgab? Was nicht stimmte. Oder dass es ihm schlecht ging?
Was aber niemand hören wollte. Aber in Karens Augen schimmerte nicht wie bei
allen anderen die Hoffnung, dass seine Antwort nicht unangenehm wäre, dass er
keinen Gefallen einforderte, keine Hilfe brauchte, keinen Trost erwartete, und
dass das Gespräch über Krankheit und Tod vor allem nicht zu lange dauern würde.
»Was glaubst du, wie’s mir geht?«
»Du
siehst aus, als könntest du einen Kaffee gebrauchen.«
»Zweihundert
Milliliter, intravenös.«
Ihr
Lächeln wirkte verkniffen. »Dann komm, ich muss mit dir reden.«
Karens
Sprechzimmer mit dem nostalgischen Karussell mit drei hübschen Holzpferden
neben ihrem Schreibtisch war ein kunterbunter Abenteuerspielplatz für kleine
Prinzessinnen im Barbie-Glitzerkleid und kleine Superhelden mit Batmobil. Nick
ließ sich in einen Sitzsack mit Blümchenmuster sinken, während Karen ihm einen
Kaffee eingoss.
Sie
brachte ihm die Tasse und setzte sich neben ihn in den karierten Sitzsack. Es
würde also kein einfaches Gespräch werden, nicht für sie, nicht für ihn. Ein
Gespräch auf Augenhöhe.
Karen
hatte ihm einmal gestanden, wie schwer es ihr fiel, ihre kleinen Patienten
irgendwann aufgeben zu müssen. Wie hatte sie es formuliert? Mit den ersten
Kindern, die sie monatelang betreut hatte, war sie mitgestorben. Ein
unglaublich qualvoller Prozess für eine Ärztin. Obwohl Karen sich innerlich
zurückgezogen hatte, um nicht bei jedem »ihrer« Kinder derart mitzuleiden, und
obwohl sie schmerzhaft gelernt hatte, den Tod zu akzeptieren, hatte sie doch
nie ihre Wärme und ihre Herzlichkeit verloren. Sie schützte sich nicht mit
ihrem immensen Fachwissen, abstrakten Überlebensstatistiken und lateinischem
Medizinvokabular vor den Gefühlen derjenigen, die ihr verwirrt, bestürzt,
verzweifelt gegenübersaßen. Trotzdem schaffte sie es mit einem Lächeln,
Zuversicht und Hoffnung in lebensverlängernden Dosen zu verabreichen.
Karen
konnte nicht jedes »ihrer« Kinder retten. Aber sie konnte alles tun, um ihnen
ihr kurzes Leben lebenswert zu machen, ohne Angst und ohne Schmerzen, und ihren
Tod sterbenswert.
Ja,
das Wort hatte Karen benutzt. Sterbenswert – was hieß das eigentlich?
Er
trank einen Schluck Kaffee. »Also?«
»Nick
...« Karens Stimme war weich, und sie wirkte verletzlich, ja hilflos. Sie
schien zu ahnen, was sie mit ihren Worten gleich anrichten würde. »Jolies
Blutbild macht mir Sorgen. Die letzte Chemo ... Sie hat es wirklich nur ganz
knapp geschafft.«
Nick
stellte die Tasse auf den Schreibtisch und sah sie an. »Klartext, bitte.«
»Jolie
geht es stündlich schlechter.« Karens Stimme blieb ruhig und bestimmt, aber er
merkte ihr an, wie viel Kraft sie die Selbstbeherrschung kostete. Sie hielt den
Blickkontakt. »Es besteht die Gefahr, dass sie ins Koma fällt und ...«
Er
schluckte trocken. »... und ihren Daddy nicht mehr umarmen kann.«
Karen
nickte verhalten. »Tut mir leid.«
»Kannst
du das verhindern?« Er
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