In Gedanken bei dir (German Edition)
fühlte die Wärme ihres kleinen Körpers.
Was
wird von ihr bleiben?, fragte er sich. Nur Erinnerungen, Momentaufnahmen und
Gesprächsfetzen. Wie soll ich die festhalten? Ich habe doch jetzt schon das
Gefühl, dass ich zu vergessen beginne. Die furchtbaren Erinnerungen, die mir
Angst gemacht haben, ja klar: Jolie im Koma auf der Intensivstation. Aber auch
die schönen, die wundervollen und unbeschwerten, die ich nicht loslassen will:
Jolie lässt am Strand einen Drachen steigen, der im Frühjahrssturm so hoch
fliegt, dass sie die gespannte Schnur mit beiden Händen kaum noch halten kann.
Was, wenn ich diese Erinnerungen verliere? Was, wenn ich vergesse, dass Jolies
Abschiedsgruß immer »Bis gleich« war? Und dass diese Worte vielleicht auch ihre
letzten sein werden? »Bis gleich ...«
Das
Schwirren an der Scheibe ließ ihn zusammenfahren.
Da,
der Lazulifink war wieder da!
Jolie
blinzelte ihn an und nuschelte: »Hallo, Nick.«
Er
hauchte ihr einen Kuss auf die Wange. »Hallo, Süße. Wie geht’s dir?«
Verschlafen
richtete Jolie sich auf, rieb sich mit den Fäusten die immer noch rot
geränderten Augen und drehte sich zum Fenster um, wo das bunte Federknäuel vor
der Scheibe auf und ab flog. Eine Weile beobachtete sie erstaunt den Vogel, und
ihr Gesicht war sehr ernst, fast traurig. Aber dann sprang sie plötzlich mit
einem faszinierten Lächeln aus dem Bett und huschte zum Fenster. Jolie war noch
zu klein, um mit dem ausgestrecken Arm die beschlagene Scheibe zu berühren. Als
Nick sie schließlich in den Arm nahm und hochhob, legte sie ihre Hand flach
gegen das Glas.
Auf
der anderen Seite der Scheibe flatterte der Lazulifink und klopfte mit dem
Schnabel immer wieder gegen das Glas, als wollte er unbedingt zu ihr.
»Hi hi
hi.« Kichernd schmiegte
Jolie sich gegen Nicks Schulter und streckte die Hand nach dem Lazulifink aus.
»Hallo, süßes Vögelchen!«, sagte sie mit ihrer hellen Kinderstimme. »Kommst du,
um mich in den Himmel zu bringen? Noch nicht, Vögelchen. Ich kann noch nicht
weg. Ich muss noch auf Mommy und Daddy warten ...«
Das Gefühl, das Alex jetzt in sich spürte,
dieses Ziehen im Herzen, aber auch das flaue Gefühl im Bauch, konnte er nicht
genau benennen. War es Mitgefühl? Oder Traurigkeit?
Cassie
hat ein todkrankes Kind, dachte er. Und es gibt einen Vater.
Nick.
Das
Gefühl ... eigentlich sind es zwei Gefühle, die sich harmonisch überlagern wie
Schwingungen. Das Gefühl in meinem Herzen ... wenn es noch stärker wird, könnte
es sich zur Eifersucht entwickeln ... Und das Gefühl in meinem Bauch ... das
ist Sehnsucht. Wie sich dieses Empfinden entwickeln wird und ob es sich noch
intensivieren wird, bis es mich und mein Leben durchschüttelt wie ein schweres
Beben, kann ich nicht sagen.
Als
Cassie vor dem Restaurant stehen blieb und sich zu ihm umdrehte, legte er ihr
die Hand in den Nacken, so wie früher, als sie gemeinsam in der Schlange an der
Supermarktkasse standen oder zusammen bis zur Golden Gate Bridge joggten und
bei den Pelikanen an der Bay verschnauften, bevor sie zum Liberty Dock
zurückliefen. »Willst du drinnen oder draußen sitzen?«
»Von
der Sonnenterrasse hat man einen tollen Blick auf den Vulkan.«
Mit
dem Daumen strich Alex über die feinen Haare in ihrem Nacken. Trug Cassie die
wegen Jolie so kurz? Vor Rührung wurde ihm die Kehle eng, und er musste
schlucken. Sein »Okay« klang gepresst.
Cassie
lächelte ihn an, und als sie sich abwandte, um auf die Terrasse zu gehen, glitt
seine Hand über ihren Rücken zu ihrer Hüfte. Dort blieb sie liegen, bis er
Cassie einen der Stühle zurechtrückte, damit sie sich setzen konnte. Sie
beschattete ihre Augen gegen die tief stehende Sonne und blinzelte zu ihm hoch.
»Danke, Alex.«
Tja,
Alex – und jetzt? Der Stuhl ihr gegenüber? Oder der Stuhl neben ihr? Seite an
Seite, so wie früher.
Ich
setze mich neben sie, beschloss er, aber weniger aus nostalgischen Gründen, als
aus praktischen. Wenn sie nämlich weinen muss, kann ich meinen Arm um sie legen
und sie trösten. Und wenn es später, wenn die Sonne untergegangen ist, kühl
wird, kann ich meinen Stuhl neben ihren rücken, und wir könnten uns unter einer
Fleecedecke eng zusammenkuscheln. Eine entspannte und vertraute Stimmung, der
funkelnde Sternenhimmel einer Sommernacht, sanfter Kerzenschein, leise Musik.
Den Blick in die Ferne gerichtet, redet es sich einfach leichter, als wenn man
dem anderen gegenübersitzt, ihm in die Augen sieht
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