In Gedanken bei dir (German Edition)
der steht: Bevor ich
sterbe, will ich mit dem Kondensstreifen eines Flugzeugs große Herzen an den
Himmel malen. Oder: Am romantischsten Strand der Welt, auf einem Motu mit Blick
auf Bora Bora, will ich einen Sonnenuntergang erleben, der so schön ist, dass
er mein letzter sein darf. Oder: Ich will einen fremden Mann küssen, weil er
mir ein Lächeln geschenkt hat, einfach so. Es gibt keine Wünsche, die dem
Sterbenden das Gefühl geben sollen, er hätte wirklich bis zum letzten
Herzschlag und bis zum letzten Atemzug gelebt, und das Beste käme erst jetzt,
kurz vor dem Ende.
Nein,
die unerfüllten Wünsche meiner Tochter sind nicht so kindlich und naiv, sie
sind sehr ernsthaft und erstaunlich reif. Und ich wünschte, ich könnte diese
Träume, die nie mehr in Erfüllung gehen werden, an Jolies Stelle verwirklichen.
Ein
ungelebtes Leben verwirklichen – wie geht das eigentlich?
Jolie
weiß, was das ist: ein ungelebtes Leben. Sie weiß, was sie tun will, aber nicht
mehr tun kann. Sie muss sich nicht besinnen und sich vorstellen, sie wäre
unheilbar krank und könnte schon morgen sterben – und heute wäre der letzte Tag
in ihrem Leben. Sie muss nicht erst darüber nachdenken, was sie in ihren
letzten Stunden anfangen würde. Sie braucht keine Liste von Dingen zu
erstellen, die sie noch tun möchte. Sie braucht keinen Text für ihre eigene
Grabrede zu entwerfen, um sich bewusst zu machen, wie sie ihr viel zu kurzes
Leben gelebt hat. Ob sie zufrieden war. Oder glücklich. Und welche
Herzenswünsche unerfüllt bleiben.
Cassie
stellte die rote Lackschachtel neben sich, lehnte sich gegen das Kopfkissen und
zog die nackten Beine an. Einen Arm um die Knie geschlungen, holte sie Barbie
im Brautkleid aus Jolies Wunschbox.
Barbies
Hochzeitskleid war ein Traum aus weißem Satin und zartem, mit Glitzer besetztem
Tüll. Ihre langen Handschuhe bestanden aus weißer Spitze, an ihrem Hals schimmerten
winzige Perlen, und ihr Blumenbouquet aus weißen Rosen wurde von feinen
Seidenbändern zusammengehalten. Selbst das blaue Strumpfband und die weißen
High Heels trug sie voller Anmut. Nur der lange Schleier passte nicht zu einer
glücklichen Braut. Jolie hatte das zarte Gewebe um Barbies kahlen Kopf
geschlungen wie ein Chemotuch.
Cassie
erinnerte sich noch an den Tag, als Jolie sich feierlich von diesem Wunsch
verabschiedete, Barbie zu Lilly in die Box legte und den Deckel schloss.
Lilly
war eine Babypuppe, mit der Jolie früher oft gespielt hatte. Sie trug einen
hübschen rosa Strampler, ein süßes Jäckchen und ein niedliches Mützchen. Damit
ihre Füßchen nicht kalt wurden, hatte sie ein paar dicke Stricksocken an. Das
Strahlen auf dem Gesicht der Babypuppe hatte Jolie von Anfang an fasziniert.
Nick hatte sie ihr geschenkt, als sie beide Jolie erzählt hatten, dass Cassie
ein Baby bekommen würde. Sie wusste noch, wie begeistert Jolie gewesen war:
Mommy bekam ein Baby, und sie bekam auch eines! Sie konnte sich darum kümmern
wie Mommy, und sie konnte es liebhaben wie Mommy! Die Babypuppe war Jolies
liebstes Spielzeug, bis sie Lilly eines Tages in die Box legte, weil sie sich
von der Vorstellung, irgendwann selbst Kinder haben zu können, verabschieden
musste.
Cassie
setzte sich auf, rutschte auf dem Bett nach unten und legte sich auf den
Rücken. Lilly legte sie neben sich auf die Bettdecke und holte ein kleines,
wuscheliges Streifenhörnchen aus Plüsch aus der Schachtel voller unerfüllter
Wünsche.
Jolie
liebte Tiere über alles. Seit Nick ihr eine Handvoll neu geborener
Streifenhörnchenbabys gezeigt hatte, wollte sie unbedingt Park Ranger werden.
Cassie erinnerte sich, wie behutsam Jolie die winzigen Hörnchen gestreichelt
und auf ihr zartes Fell gepustet hatte. Dabei hatte sie die kleinen Wesen
niemals für Kuscheltiere zum Spielen und Liebhaben gehalten. Cassie glaubte,
aus Dr Jolie Lacey wäre irgendwann ein toller Park Ranger geworden, eine
Daktari in den Savannen Afrikas oder eine Tierschützerin beim World Wildlife
Fund for Nature, für den sie seit zwei Jahren ihr ganzes Taschengeld spendete.
Schon vor Monaten hatte sie die Patenschaft für einen Delfin übernommen, den
sie niemals streicheln und umarmen würde.
Cassie
wühlte wieder in der Box.
Das
rote Plüschherz mit dem aufgestickten Yes, we can! hatte Coop ihr
geschenkt, nachdem sie zum ersten Mal mit ihm telefoniert hatte. Er war so
gerührt von der Vorstellung, einem kleinen Mädchen auf der anderen Seite der
Welt ein neues Leben zu schenken, dass er
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