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In Gottes Namen. Amen!

In Gottes Namen. Amen!

Titel: In Gottes Namen. Amen! Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Rich
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dicker, als Eliza gedacht hatte (die Porträtmaler waren offensichtlich sehr nett gewesen). Ihr schwabbeliger Hals glänzte vor Schweiß, und sie tupfte ihn immer wieder mit einem groben beigefarbenen Taschentuch ab. Ein kleines schwarzes Haar wuchs aus dem Muttermal auf ihrer Wange, und ab und zu zupfte sie daran herum, doch es gelang ihr nicht, es herauszuziehen. Der Präsident lachte kein einziges Mal über das Stück, lächelte aber den gesamten zweiten Akt über heiter. Seine Augen waren feucht und saßen tief in seinem blassen, faltigen Gesicht.
    Plötzlich tauchte ein verschwitzter Mann mit einem kleinen schwarzen Derringer in der Hand hinter dem Paar auf. Er sah überraschend gut aus. Er zögerte einen Augenblick, dann hob er die Pistole an Lincolns Kopf.
    »Ich kann nicht hinsehen!«, schrie Eliza und hielt sich die Augen zu. Als sie das nächste Mal auf den Bildschirm blickte, lag der Präsident auf dem Teppich; um seinen Kopf herum bildete sich eine rote Pfütze.
    »Willst du’s noch mal in Zeitlupe sehen?«, fragte Brian und schüttelte einige weitere Alka-Seltzer auf den Schreibtisch.
    Eliza schüttelte den Kopf. »Können wir bitte umschalten … auf etwas … weniger Schreckliches?«
    »Klar«, sagte Brian. »Wir können uns ansehen, was wir wollen.«
    Bevor Eliza wusste, wie ihr geschah, hatten sie drei Stunden lang im Server gesurft. Sie hatten die ersten Bandproben der Beatles gesehen (verblüffend langweilig) und Mozarts ersten Auftritt in Versailles (enttäuschend kurz). Sie hatten gesehen, wie Johanna von Orleans weitschweifige Reden vor einer Horde besorgter Soldaten schwang. Sie hatten Nofretete beim Baden beobachtet – ein ausgesprochen komplizierter Prozess, der zwanzig Minuten in Anspruch nahm, und zwar im Schnelldurchlauf.
    Eliza verzog das Gesicht, als die Engländer die spanische Armada angriffen, deren Schiffe abfackelten und die Matrosen verbrannten. Sie lachte über einen Zwerg aus Athen, der wie irre über eine sonnige Marmorbühne schwankte.
    Doch die faszinierendste Entdeckung war etwas, auf das sie zufällig gestoßen war. Sie hatte gerade ein paar Indianern aus dem siebzehnten Jahrhundert beim Aufstellen von Biberfallen zugesehen, als sie versehentlich auf den Zoom klickte und zurückfuhr. Die Indianer schrumpften zu kleinen Fleckchen zusammen, anschließend erschienen zerklüftete Küstenabschnitte.
    »Was ist das für eine kleine Insel?«, fragte sie und zeigte auf den rechteckigen Streifen Land.
    »Das ist Manhattan«, sagte er. »Siehst du?«
    Er klickte auf den Schnelldurchlauf, und die Stadt nahm allmählich Gestalt an. Zunächst ein paar Häusergruppen, die sich ungleichmäßig über die Südspitze der Insel verteilten. Dann kamen Kopfsteinpflasterstraßen dazu, die sich wie eine Schar silbriger Schlangen Wege durch den Wald bahnten und alle Bäume fraßen, die ihnen in die Quere kamen.
    »Geht’s noch schneller?«
    Brian klickte auf fünfhundertfache Geschwindigkeit, und ein Netz aus Straßen legte sich brutal über den Wald, gefolgt von einigen Farmhäusern. Plötzlich gab es immer mehr Pferde – dann verschwanden sie wieder – wurden durch Autos ersetzt. Die Stadt wuchs, dann brannte sie, dann wuchs sie wieder – dieses Mal aber war sie aus Stahl und Glas. Flugzeuge tauchten plötzlich in dem Bildausschnitt auf, verdunkelten den Himmel, verstellten die Sicht. Und dann blieb das Bild unvermittelt stehen. Sie waren in der Gegenwart angekommen.
    »Sieh dir die ganzen Leute an«, flüsterte Eliza und zoomte auf den Times Square. »Ich meine, ehrlich … man kann nicht allen helfen.«
    Brian lachte. »Keine Sorge«, sagte er. »Die merken sowieso keinen Unterschied.«
    »Und dann haben wir gesehen, wie die Titanic unterging!«, erzählte Eliza Craig atemlos. »Da war so ein Ire – der war angezogen wie eine Frau. Und als sie ihn im Rettungsboot zur Rede gestellt haben, hat er mit so einer irren hohen Stimme gesprochen, so: ›Ach du lieber Himmel! Ich bin doch nur ein kleines Fräulein!‹«
    Craig nickte. »Den hab ich auch gesehen.«
    »Und die Band hat in Wirklichkeit gar nicht einfach ›weitergespielt‹, wie immer behauptet wurde. Die haben geschrien und waren in Panik wie alle anderen auch. Zwei von denen wollten sich auch als Frauen verkleiden, aber sie haben keine Hauben gefunden. Dann haben wir gesehen, wie Oscar Wilde gestorben ist! Stell dir vor: Man sagt doch, seine letzten Worte waren: ›Entweder geht diese scheußliche Tapete – oder ich.‹ Aber in

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