In Gottes Namen. Amen!
die Leute mischen. Aber das war Stunden her. Seitdem hatte sie sich auch noch »Die Frau mit dem Tumor«, »Am Gesicht verwachsen« und eine Wiederholung von »Die Frau mit dem Tumor« angesehen. Jetzt war es 1:20 Uhr. Die Nacht war praktisch gelaufen.
Laura war kürzlich dreiundzwanzig Jahre alt geworden, und ihre beiden älteren Schwestern hatten ihr Geburtstagskarten geschickt. Sie hatte sie auf ihren Fernseher gestellt: eine glitzernde von Katrina und eine ausführlich beschriebene von Dianne.
Als sie klein waren, war Katrina immer »die Hübsche« gewesen und Dianne immer »die Schlaue«. Laura war weder besonders hübsch noch besonders schlau, aber ihre Eltern hatten ihr unbedingt auch eine Identität vermitteln wollen. Als sie neun war, hatten sie ihr Unterrichtsstunden im Turnen geschenkt und gedacht, sie könnte ja vielleicht »die Sportliche« werden. Aber sie hatte nicht mal einen einzigen Klimmzug hinbekommen. Als sie zehn wurde, kauften sie ihr eine Bibel mit Monogramm, weil sie hofften, sie könnte wenigstens »die Fromme« werden. Aber sie war nie dazu gekommen, sie zu lesen. Eines Tages, mit zwölf Jahren, schoss sie aus Langeweile ein paar Polaroids von einem Baum. Aufgrund dieses zufälligen Ereignisses glaubten ihre Eltern, sie sei die »künstlerisch Begabte«. Sie schenkten ihr eine teure Kamera, und pflichtschuldigst nahm sie damit Bilder auf.
Sie besuchte die NYU und machte ihren Abschluss in Bildwissenschaft, als Prüfungsarbeit reichte sie abstrakte Naturstudien ein. Sie hatte viel Arbeit in ihr Studium gesteckt. Und als sie vom College abging, hatte sie vor allem zwei Dinge gelernt: Erstens, eigentlich hatte sie nichts für Fotografie übrig; und zweitens, sie war nicht gut darin.
Jetzt hatte sie das College verlassen und war ratlos, hielt sich in einer küchenlosen Wohnung auf der Lower East Side gerade so über Wasser. Ihre einzige Einkommensquelle war ein Job, den sie auf Craigslist ergattert hatte. Jack’s Dawgs, eine Kette mit Hotdog-Läden in der Innenstadt, hatte kürzlich bei einer Überprüfung durch das Gesundheitsamt schlecht abgeschnitten. Der Inhaber, Jack Potenzone, bezahlte Laura nun, damit sie das öffentliche Image seines Unternehmens verbesserte. Täglich ging sie online und postete unter frei erfundenen Namen Hunderte von positiven Kommentaren auf Food Sites.
»Ich weiß nicht, wieso Jack’s Dawgs einen so schlechten Ruf genießt«, lautete ein typischer Eintrag. »Alle Läden sind makellos, einladend, und Ratten gibt es auch keine.«
Ihr Boss hatte ihr aufgetragen, unbedingt in jedem Kommentar die Formulierung »Es gibt keine Ratten« unterzubringen. »Auf die Art«, erklärte er, »werden die Leute glauben, dass es bei uns keine Ratten gibt.«
Laura hatte ihn gewarnt, dass die übermäßige Verwendung des Satzes Misstrauen wecken könnte. Doch Jack ließ sich nicht davon abbringen, und sie hielt einen Streit für sinnlos. Der Job brachte ihr 250 Dollar die Woche ein, und sie brauchte das Geld dringend. In der kurzen Zeit seit ihrem Collegeabschluss war sie mit ihrer Kreditkarte bereits 8000 Dollar in die Miesen geraten. Sie wusste, dass sie eigentlich wieder nach Hause ziehen musste, fürchtete sich aber davor, ihren Eltern unter die Augen zu treten. Sie fürchtete sich davor, irgendjemandem unter die Augen zu treten. Abgesehen von ihrem täglichen Kaffee bei Dunkin Donuts verließ sie ihre Wohnung so gut wie nie.
Die einzigen Menschen, mit denen Laura sprach, waren Fremde, die aus Versehen bei ihr anriefen. Vor drei Wochen hatte sie ein neues iPhone bekommen, und ihre Nummer unterschied sich nur durch eine Ziffer von der Gewinnspielnummer eines Radiosenders. Sie bekam zirka dreißig Anrufe täglich von Leuten, die sich verwählt hatten.
»Bin ich der hundertunderste Anrufer?«, wollten die meisten wissen. »Hab ich gewonnen?«
Die ersten paar Male entschuldigte sich Laura und erklärte den Betreffenden, dass sie sich verwählt hatten – dass sie eine Privatperson und kein Radiosender sei. Aber wenn sie dies sagte, wurden die Anrufer immer so sauer – fluchten und widersprachen ihr –, dass sie das ganz niedergeschlagen machte. Wenn die Leute jetzt fragten, ob sie gewonnen hatten, sagte sie normalerweise einfach ja.
Sie wusste nie, um welche Gewinne es ging, und wenn sie gefragt wurde, dachte sie sich einfach etwas aus. In dieser Woche hatte sie bereits zehn Karten für den Super Bowl verschenkt, vier Reisen nach Aruba und ein Abendessen mit Pierce
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