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In grellem Licht

In grellem Licht

Titel: In grellem Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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entferntesten
vorstellen; doch sobald ich sie erblicke, erinnere ich mich
einerseits daran, wer Marie Antoinette war, und weiß es
gleichzeitig doch zum erstenmal. Es ist ein verrücktes
Gefühl, und plötzlich muß ich lachen.
    »Kaufen wir doch dieses Armband, von dem du mir erzählt
hast!«
    Wir gehen hinein und kaufen Schmuck, aber nicht für mich. Ich
entdecke ein Armband aus zarten Lapislazuliperlen in der exakt
gleichen Farbe wie Robs Augen und bestehe darauf, es ihm zu schenken.
Ich ziehe meine Karte durch den Schlitz neben den ausgestellten
Stücken, und die Plastikabdeckung öffnet sich. »Vielen
Dank für Ihren Einkauf!« sagt der Laden munter. Ich
befestige das Armband an Robs Handgelenk, und er lächelt mir zu,
ehe er es unter seinen Ärmel schiebt, wo niemand sonst es sehen
kann.
    Wieder auf der Straße, denke ich stets daran, nicht nach
Robs Hand zu greifen. Niemand ist mehr >beschwingt< in Amerika,
wo jeder einzelne mitträgt an der Verantwortung, die
Gesellschaft in ihren Bindungen zu festigen und nach besten
Kräften für Nachkommenschaft zu sorgen. Daran erinnere ich
mich ohne Schwierigkeiten; das ist eine Tatsache.
    Aber die Leute starren uns dennoch an; sie drehen sich sogar nach
uns um. Weil sie erkennen, daß wir beschwingt sind? Nein,
unmöglich: sie lächeln. Und es kann auch nicht sein,
daß sie sich nach Cameron Atuli umdrehen – das ist ja der
Sinn des modernen Tanzens in Masken: Der Tanz ist das, was
zählt, nicht der Tänzer. Gesichter lenken nur von der Form
ab, vom Thema, von den Bewegungen.
    Dann kommt mir ein schlimmerer Gedanke: Kennen mich diese Leute
durch das, was vorher passiert ist? War mein Gesicht irgendwann
einmal in jeder Nachrichtensendung, auf jedem Titelblatt? Kennt
jeder, der mich auf der Straße sieht, auf Anhieb mein Leben,
und ich kenne es nicht?
    Ich frage Rob. »Nein, nein!« sagt er. »Ach, mein
armer Cam, hast du das gedacht? Nein, es kam nie in die Medien. Die
Polizei hat nur mit Melita und Mister C. gesprochen, und von denen
haben wir es gehört… einiges davon. Nein, nein, niemand
erkennt dich deshalb wieder.«
    »Sie starren mich aber an!«
    »Natürlich tun sie das«, sagt Rob. »Sie
starren uns beide an. Denk doch daran, wie wenige junge Leute es
heutzutage gibt!«
    Da erinnere ich mich. Auch das ist eine Tatsache. Der Kipp-Punkt,
die Bevölkerungsverschiebung… Dafür habe ich mich nie
wirklich interessiert, und dabei ist es geblieben. Der Kipp-Punkt hat
wohl keinerlei persönliche autobiographische Bedeutung für
mich.
    Die meisten Leute, die die Läden betreten oder von dort
herauskommen, sind gut angezogen und fröhlich. Das hier ist eine
Sperrzone, erklärt mir Rob, die Grenze aus Leuchtmarkern darf
nur überschreiten, wer über eine Zutrittsbewilligung
verfügt. Die Menschen sind zum Großteil alt, zumindest
fünfzig, und Rob und ich sind jung und schön, und seine
Bewegungen fließen wie Wasser. Genau wie die meinen.
    Wir machen noch einige Einkäufe, essen mexikanisch und
besuchen einen VR-Salon. Die heutige Simulation ist das alte England
mit Bärenjagden, Barden, Holo-Frivolitäten und echtem Ale.
Wir brechen verspätet zur Probe auf, und es läßt mich
völlig kalt.
    Bei der Linden Lane kommt eine Frau um die Ecke, die einen
Kinderwagen schiebt. Im Wagen liegt ein junges Hündchen, das
einen Hut aufhat, um seinen Kopf vor der Sonne zu schützen.
Vorsichtig, um das Hündchen nicht zu rütteln, senkt die
Frau die Räder des Wagens über den Randstein.
    »Cam!« schreit Rob. »Cam, was ist denn
los?«
    Aber ich renne schon, stoße andere Leute vom Gehsteig oder
gegen das Geländer in der Mitte, weil ich so dicht wie
möglich an den schützenden Mauern der Häuser bleiben
will. Tränen fließen mir über die Wangen und trocknen
rasch, weil ich so schnell laufe. Ich renne und renne, und Rob jagt
hinter mir her – und ein Teil meines Gehirns weiß ganz
genau, daß es nur Rob ist, der hinter mir herjagt und nicht das
Hündchen mit dem Sonnenhut – nur ein Hündchen, nur
ein Hündchen! –, aber ich kann nicht stehenbleiben. Als
ich schließlich atemlos dazu gezwungen bin und Rob keuchend
neben mir innehält, kann er mich so in der Öffentlichkeit
zwar nicht berühren, aber er bringt mich dazu, mich hinzusetzen
und holt mir ein Getränk. Doch ich sehe die ganze Zeit nur das
Hündchen im Kinderwagen und das liebevolle, geradezu vernarrte
Gesicht der Frau vor mir, und wie sie mit dem Wagen herumfuhrwerkt,
um die Ruhe ihres jämmerlichen Ersatzkindes

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