In grellem Licht
Erleichterung, es laut auszusprechen.
»Könnte schlimmer sein. Vermutlich kratzen Sie von einer
Minute zur nächsten ab. Was gibt’s zum Abendessen, wissen
Sie es?«
»Roastbeef«, sagte ich und mußte lachen. Einen
gut vorbereiteten Jod hatte ich gewollt. Mitten unter meinen
Erben, für die diese Vorbereitung so alltäglich war wie das
Atmen. Und so langweilig wie Ballett.
»Klasse!« sagte Shana. »Ich liebe Roastbeef. Nichts
wie ran ans Futter!«
Als ich eintrat, stand der Leiter der Arzneimittelbehörde
auf, um mich zu begrüßen. »Nick!« rief er und
nahm meine beiden Hände in die seinen; auf seinen Lippen lag ein
herzliches Willkommenslächeln, doch seine Augen waren auf der
Hut. Wieder einmal spürte ich – wie stets seit mehr als
fünfzig Jahren – die ausgeprägte
Widersprüchlichkeit dieses Mannes.
Vanderbilt Grant und ich waren zusammen auf der medizinischen
Fakultät in Harvard gewesen – vor einer Million Jahre, nach
1970. Damals hatte er mich fasziniert und verwirrt – nicht nur
mich, sondern uns Medizinstudenten alle, die wir aus kleinen,
geordneten Städten mit kleinen, geordneten Leben darin kamen.
Vans Widersprüchlichkeiten hatten jedoch lange vor Harvard
begonnen. Sein Vater war ein schwarzer Jazzmusiker gewesen, seine
Mutter eine Vanderbilt, eine amerikanische Prinzessin, die in der New
Yorker >Beatszene< der fünfziger Jahre herumstreifte. Und
seine Geburt ein Skandal. Später, in der Ära der
Bürgerrechtler, hatte ein zehnjähriger Vanderbilt Grant im
Süden in einer rassistisch aufgeheizten Gegend die Menschen dazu
gedrängt, sich in die Wählerlisten eintragen zu lassen. Im
College hatte er zu den schwarzen Aktivisten gezählt – aber
nie zu den gewalttätigen. Arbeitet innerhalb des Systems!, hatte er Studenten zurückgehalten, die wild entschlossen
waren, das Verwaltungsgebäude zu stürmen, und haut die
Faschisten auf diese Weise nieder! »Dann müssen sie
einfach den Schwanz einziehen und uns unsere Rechte geben!« Der
Ghetto-Slang war nicht echt; als radikal zu sein schick wurde, hatte
Van angefangen, die Sommerferien mit seinen Vanderbilt-Vettern in
Newport und Bar Harbor zu verbringen. Er war ein toller Tennisspieler
und hätte der olympischen Schwimmstaffel angehören
können, wenn er die Sache ernst genommen hätte, aber das
wollte er nicht. »Nichts Bedeutsames wurde je in einem
Schwimmbecken entschieden.«
Dann hatte er Medizin studiert, das Studium als Jahrgangsbester
beendet und sich zum medizinischen Direktor des New York Hospital in
Queens emporgearbeitet. Im Jahr 2020 war er verheiratet und reich; er
wohnte in Connecticut an der Küste und teilte seine Freizeit
zwischen Golf und den freien Kliniken für Schwarze in der Bronx
auf. Bei seinen Freunden von der Wallstreet war er wegen seiner
Fähigkeit, sein wachsendes Kapital schlau und ertragreich
anzulegen, hoch geachtet. Seine Enkelkinder studierten in Groton.
Der Kipp-Punkt veränderte das alles. Die Schwarzen, die sich
in unverhältnismäßig hoher Anzahl auf der untersten
Stufe der gesellschaftlichen Skala befanden, wurden von der
Kürzung der Geldmittel für staatliche Einrichtungen –
selbst für so grundlegende wie die Polizei – besonders hart
getroffen. Van verließ das New York Hospital und ging auf die
Straße. Er organisierte und predigte – zu diesem Zeitpunkt
war er bereits zu den Wiedergeborenen Christen übergetreten
– und gab Befehle und beschwatzte die Leute und, so behaupten
manche, verhinderte persönlich, daß ein Großteil von
New York in einen unaufhaltsamen Strudel der Vernichtung gezogen
wurde. Als die Krise vorüber war, war Van ein Nationalheld. Als
erste Amtshandlung seiner ersten Amtszeit ernannte Präsident
Combes ihn zum Leiter der Arznei- und Lebensmittelbehörde, und
in Washington ging das Gerücht um, daß Combes ihn
persönlich darum gebeten hatte, das Amt zu übernehmen.
Irgendwie war Van Grant für alle akzeptabel: für die
Religiösen, für die Minderheiten, für die Gemeinde der
Wissenschaftler, die Armen, die großen Geschäftemacher, ja
sogar für die Pharmaunternehmen. »Man kann mit ihm
reden«, sagte die Pharmaindustrie, »er ist kein
verknöcherter Bürokrat.« Vanderbilt Grant war der
erste Leiter der Arzneimittelbehörde, der eine
zweiundachtzigprozentige öffentliche Akzeptanz hinter sich
wußte. Seinen Namen kannten mehr Amerikaner als den des
Vizepräsidenten.
Seine Widersprüchlichkeit wurde noch ausgeprägter als je
zuvor. Er war ehrlich warmherzig,
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