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In grellem Licht

In grellem Licht

Titel: In grellem Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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und doch blieb da immer diese
gewisse Reserve, diese Distanziertheit, die man nie überwinden
konnte. Von wahrem Mitgefühl für die untersten Schichten
der Gesellschaft erfüllt, verfocht er doch starr und unbeugsam
den moralischen Zwang zu individueller Verantwortlichkeit.
Charismatisch und selbstgerecht, skrupellos und liebenswürdig,
schwarz und konservativ erkämpfte Vanderbilt Grant sich seinen
Weg, lächelnd und brüllend, und die politischen Experten
waren immer zwei Schritte hinter ihm. Er wechselte unentwegt seine
Standpunkte und wirkte dennoch nie so, als würde er schwanken.
Denn jeder dieser Standpunkte, so behauptete er, würde seine
tiefe Überzeugung widerspiegeln, und die Menschen glaubten ihm.
Er war der perfekte Washingtoner Politiker.
    Ein perfekter Freund war er jedoch nicht, wie ich nur zu gut
wußte. Dazu konnte man nicht nahe genug an ihn herankommen. Und
doch war es Van Grant gewesen, den ich einst gebeten hatte, mein
Trauzeuge zu sein. Van Grant, der Alana als Kandidatin für die
Emigration zum Mars gefördert hatte. Van Grant, der mich nach
meiner Pensionierung vom Institut geschnappt und in den Beirat
für medizinische Krisen beim Kongreß gesetzt hatte.
    Und jetzt stand er vor mir, hielt meine Hände in den seinen
und strahlte. Drahtig und von kerzengerader Haltung, sah er
fünfzehn Jahre jünger aus als ich. Seine Stimme, diese
berühmte tiefe, wohlklingende Stimme, war voll gebändigter
Kraft, wie ein gutes Saxophon, das sich jeden Moment von der
vorgegebenen Melodie loslösen und auf den Flügeln der
Improvisation emporschwingen könnte. Es war eine Stimme, die man
nie mehr vergaß.
    »Wie schön, dich wieder einmal zu sehen, Nick! Wie lang
ist es jetzt schon wieder her? Ach, denken wir nicht nach, wer will
schon an sein Alter erinnert werden?« Er lachte, ein leises
Lachen, tief in der Kehle, während seine Augen mich musterten.
Ich sah, wie er mein herabhängendes Lid und meine bleiche
Gesichtsfarbe registrierte. Van war früher mal ein blendender
Diagnostiker gewesen. »Was kann ich für dich tun,
Nick?«
    »Einen Gefallen.« Ich setzte mich in einen bequemen
Sessel. Ein Schreibtisch aus Teakholz, Ledersessel, das Neueste an
Wandprogrammierung. Skulpturen schwarzer Straßenkünstler,
eine handbestickte amerikanische Fahne. »Ich bin doch beim
Beirat für medizinische Krisen.«
    Van nickte; seine Empfehlung hatte mich dorthin gebracht.
    »Wie du bereits weißt, Van, gibt es
Auffassungsunterschiede zwischen mir und den anderen Mitgliedern. Und
die werden immer gravierender. Sie weigern sich etwa, die Ursachen
für die Fruchtbarkeitskrise auch nur zu sehen. Immer
wieder weise ich auf die Studien hin – und davon gibt es Monat
für Monat mehr –, die besagen, daß die menschliche
Unfruchtbarkeit auf die kumulative Wirkung der endokrinen Disruptoren
zurückzuführen ist, mit denen wir unsere Umwelt
anreichern.«
    Erstaunliche Ergebnisse für alle, die sich dafür
interessierten. Aber die meisten Menschen zogen es vor, die Augen
davor zu verschließen. Ach, das betrifft ja in erster Linie
Afrika, sagten sie, weil dieser Kontinent, der in seinen
vergeblichen Bemühungen, Insekten, Pflanzenschädlinge und
Krankheiten im Zaum zu halten, die schwersten chemischen Keulen
verwendet hatte, am stärksten betroffen war. Aber es betraf
nicht nur Afrika. Der Großteil der endokrinen Disruptoren wurde
mit dem Wind verbreitet, und die Studien, die der Beirat des
Kongresses so sorgfältig zu ignorieren trachtete, offenbarten
hochgradige Anreicherungen von Disruptoren im Gewebe von
Eisbären, von Buschratten auf Inseln im Pazifik und von
südamerikanischen Klammeraffen.
    »Der Beirat sagt dazu nur immer >keine überzeugenden
Beweise<«, fuhr ich fort, »weil die Daten aus der freien
Natur stammen und nicht zu denjenigen gehören, die unter
Laborbedingungen schlüssig nachvollziehbar sind.«
    Wieder nickte Van; das wußte er natürlich alles.
Irgendwie war es ihm gelungen, beide Seiten zugleich zu
unterstützen, indem er nicht müde wurde, öffentlich
darauf hinzuweisen, daß die Ursachen eines Problems weniger
Stellenwert hatten als seine Lösung: schön und gut, aber
was können wir jetzt unternehmen? Bei ihm wirkte es
nicht so, als würde er sich scheuen, Partei zu ergreifen: bei
ihm wirkte es wie ein Aufruf zu Entschlossenheit und
Aktivität.
    »Aber der Gefallen, um den ich dich bitte«, fuhr ich
fort, »bezieht sich auf eine ganz konkrete Sache. Beim Beirat
geht etwas vor, das außerhalb der

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