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In grellem Licht

In grellem Licht

Titel: In grellem Licht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Kress
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diesem Fall, zumindest
sein Kopf und seine Hände – stundenlang in einem MOSS-Tank
gelegen haben. Und auch die Auswahl der Zellen müßte
zeitraubend gewesen sein, denn man brauchte etliche hundert
verschiedene Prototypen, von Blutgefäßen bis zu
Fettzellen. Und natürlich war die Benutzung von Prototypen zu
einem solchen Zweck absolut illegal, auch wenn dabei nicht an
menschlicher DNA herumgepfuscht wurde. Nach diesem wichtigsten
hieß das zweite Gebot der Gentechnik: »Du sollst die
menschliche Natur nicht dadurch beschmutzen, indem du sie mit Tieren
kreuzt.«
    Also mußte Cameron Atuli beim Übertragen seines
Gesichtes auf das von Schimpansen in irgendeiner Weise kooperiert
haben.
    Aber das ergab keinen Sinn. So wie Maggie war auch ich zuvor kurz
aus dem Wohnzimmer gegangen und hatte Shana dort allein gelassen, um
in den Datenbanken hastig Nachforschungen anzustellen. Demnach war
Cameron Atuli einer der weltweit vielversprechendsten jungen
Tänzer. Ich interessiere mich nicht besonders für Ballett,
aber viele andere Leute tun das, und die schwärmten begeistert
davon, wie >lichtvoll< Atuli war, wie >strahlend<, wie
>tiefgehend<, wie >verwirrend schnell< – sie
schwärmten in all diesen Wellenlängen-orientierten
Adjektiven, die in der darstellenden Kunst vorzugsweise Verwendung
finden. Atuli hatte eine brillante Zukunft vor sich. Sie würde
ihn reich machen, wenn er das nicht ohnehin schon war. Abgesehen
davon war er ein menschenscheuer, diskreter Homosexueller, was
bedeutete, er würde wohl alles vermeiden, was Aufsehen erregen
konnte, wenn er nicht auf der Bühne stand. Er hatte absolut
keinen Grund, an irgendeinem illegalen Experiment teilzunehmen –
und jede Menge Gründe, es nicht zu tun. Wie gesagt: es ergab
keinen Sinn.
    Außer man hatte sich seine Mitarbeit durch Erpressung
verschafft, oder der MOSS und Atulis Gewebeproben waren ohne seine
Zustimmung zustandegekommen. Erpressung war bei Homos – oder
hieß das jetzt ausnahmslos >Schwuledenkbar, aber bei Atuli hielt ich es nicht für wahrscheinlich.
Diejenigen, die am lautesten von der >gemeinsam getragenen
Verantwortung< faselten – ob sie nun religiös waren oder
nicht –, stellten nicht unbedingt das typische Ballettpublikum.
Diese Art von Tanz galt als belanglose, aussterbende Fußnote
der Kultur. Den Aufzeichnungen zufolge hatte Atuli auch keine
Familie, die man hätte bedrohen können (seine Eltern waren
als Armeeangehörige in Südamerika ums Leben gekommen), und
kein ererbtes Vermögen. Und er lebte in Aldani House.
Gegründet und erhalten von einem leidenschaftlichen Liebhaber
des Tanzes, stellte Aldani House eine sichere, abgeschiedene Oase
für Tänzer aller sexuellen und politischen Richtungen dar.
Nein, Erpressung erschien mir unwahrscheinlich.
    »He, erinnern Sie sich? Ich bin immer noch da, Doktor!«
rief Shana.
    »Entschuldigen Sie«, sagte ich. »Ich dachte gerade
nach. Als nächsten Schritt sollten wir mit ein paar Leuten
reden, die ich kenne.«
    »Was für Leute?«
    »Polizisten«, sagte ich und war gespannt, wie sie
reagieren würde. Aber sie nickte nur, und ich wurde immer
sicherer, daß ihre Geschichte nicht erfunden war.
    »Okay, Polizei. Und warum?«
    »Weil es da ein paar Dinge gibt, die einfach keinen Sinn
ergeben.«
    »Ehrlich? He, irgendwas riecht da gut!«
    »Das Essen ist aufgetragen, Doktor Clementi«, sagte das
Haussystem.
    »Höchste Zeit. Bin schon am Verhungern.« Und dann
fügte sie angelegentlich hinzu: »Essen Sie immer noch
normal?«
    Ich ging voraus zum Eßzimmer. »Was meinen Sie
damit?«
    »Versuchen Sie nicht, mir was vorzumachen, Doktor! Ich
hab mein ganzes Leben bei alten Leuten zugebracht. Wieviel Zeit
bleibt Ihnen denn noch?«
    Ich blieb abrupt stehen, drehte mich um und starrte sie an.
    »Ooooh«, sagte sie. »Ihre Frau weiß noch
nichts davon!«
    »Shana…«
    »Schon klar«, nickte sie. »Ich werde nichts davon
erwähnen. Was ist es denn?«
    Sie war so sachlich. Waren alle jungen Leute wie sie? Akzeptierten
sie alle den Tod mit dieser Lässigkeit? In meiner Jugend war der
Tod etwas, das versteckt wurde – in Krankenhäusern, in
Altersheimen, in abgedunkelten Schlafzimmern. Aber jetzt verbarg er
sich nicht mehr in diesen verschwiegenen Mauselöchern;
dafür war er zu allgegenwärtig geworden. Wie das Wetter war
er immer da, auch wenn es uns nicht behagte.
    Du weißt, daß es für alle gilt; was lebt,
muß sterben…
    »Meine Krankheit steckt im Kopf.« Es war eine
unerwartete

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