In grellem Licht
Außerdem bin ich verheiratet, und
zwar sehr glücklich. Wenn ich mich also für Ihre Geschichte
interessiert habe, dann deshalb, weil mich ebendiese Geschichte
interessiert und nicht Ihr Körper.«
Sie starrte mich ungläubig an. Dann schüttelte sie den
Kopf und lächelte. »Oh, klar. Sicher.«
Wie das Leben dieses Kindes wohl bisher verlaufen war? Ich konnte
nur raten. Aber Shana war tatsächlich wandlungsfähig. Sie
rückte wieder ab von mir – ich hatte den definitiven
Eindruck, daß sie meine Einstellung als vorübergehend
betrachtete – und wurde geschäftsmäßig.
»Okay, was soll ich meiner Geschichte noch hinzufügen? Und
kann ich Ihnen das, was fehlt, vielleicht bei Ihnen daheim
erzählen, damit ich nicht auf der Straße herumlungern
muß? Ich bin zu alt für die Kinderfürsorge.«
Man würde sie dort trotzdem aufnehmen, dachte ich. Niemand
verweigerte einem jungen Menschen Hilfe. Offenbar mich
eingeschlossen. »Ja, Sie können vorderhand bei meiner Frau
und mir wohnen. So kann ich wenigstens sicher sein, daß Sie
sich nicht heimlich absetzen und ich meine Kaution in den Wind
geschossen habe.«
Sie lächelte bei dem Gedanken, daß ich sie von irgend
etwas abhalten könnte, und folgte meinem mühsamen Gang zum
Zug. »Brauchen Sie Hilfe?«
»Nein«, sagte ich. Und dann: »Vielen
Dank.«
Sie nickte, verlangsamte ihre Schritte noch mehr, und mit einemmal
wurde mir bewußt, was für ein unendlich süßes
Gefühl es war, einen jungen Menschen neben mir zu haben, der
sich vertrauensvoll auf mich verließ. So hatte es sich
angefühlt, als Sallie, Alana und John noch klein waren. Für
ein Kind war Daddy der Supermann. Wären Alana und ihre kleine
Familie nicht zum Mars ausgewandert… Hätten Sallie oder
John uns Enkel geschenkt…
»Achtung auf den Randstein!« sagte Shana und nahm meinen
Arm. Ich betrachtete die alten Leute rundum, die mitten am Nachmittag
einfach nichts zu tun hatten. Eine Frau fütterte die Tauben.
Zwei Männer spielten Backgammon auf einer zu ihrer Sicherheit
überwachten Parkbank. Auf eine niedrige SchaumStein-Mauer hatte
jemand alte knacker, kratzt endlich ab und lasst uns frei! gesprayt.
Niemand sah die Graffiti direkt an. Statt dessen warfen sie mir
bissige Seitenblicke zu – mir mit meiner schönen
Enkeltochter, einem der wenigen Glücklichen… warum ich und
nicht sie? Ich konnte ihnen nicht ins Gesicht sehen.
Wir kamen nur langsam voran. Meine Kopfschmerzen waren wieder da,
ungeachtet der massiven Dosis von Schmerzmitteln, die ich mir
zusammen mit den Antimykotika selbst verschrieben hatte. Die
Medikamente verlangsamten zwar das Wachsen des Pilzes, waren aber
nicht in der Lage, ihn abzutöten. Mukor war eben so:
hartnäckig und störrisch wie Shana Walders. Er wuchs durch
die Nerven, die mit meinem Gehirn verbunden waren.
»Schauen Sie sich das an!« sagte Shana und zeigte mit
der Hand, die mich nicht stützte, auf die andere
Straßenseite. Ein Junge von etwa acht oder neun Jahren hatte
eine Ratte hinter ein paar Mülleimern entdeckt. Neugierig
schlich er sich näher. Seine Leibwache, eine riesenhafte,
stämmige Frau in einer Uniform, faßte nach der Hand des
Kindes und führte es weg von den Mülltonnen. Augenblicklich
warf sich der Kleine zu Boden, begann zu brüllen, riß
heftig an der Hand, die ihn festhielt, und trommelte mit den Fersen
auf den schmutzigen Gehsteig. Die Ratte sah interessiert hinter einer
Mülltonne hervor und fletschte die Zähne.
Shana sagte: »Wenn das mein Kind wäre, würde ich
ihm eins hinter die Löffel geben, daß ihm eine Woche lang
der Schädel brummt. Er ist schon zu groß für solche
Faxen. Schauen Sie sich das an!«
Ich spürte, wie mein rechtes Augenlid wieder herabfiel und
sagte müde: »Verminderte Toleranz für Frustrationen.
Oder eine Lernschwäche. Oder vielleicht nur ein
beträchtlich verstärktes Aggressionsverhalten, wie die
Ratte. Alles die Folge von vermehrten Hormondisruptoren.«
»Wie?«
»Nichts«, sagte ich. »Sie würden es ohnehin
nicht glauben.« Ebensowenig wie alle anderen.
»Ich bin nicht blöd!« sagte sie empört.
Aber ich war zu erschöpft, zu sehr eingehüllt in meinen
dumpfen Schmerz, um ihr zu antworten. Zu sehr damit beschäftigt
zu sterben.
Nichts davon! Kein Selbstmitleid! Der Feige stirbt viele Tode
vor seinem Ende; der Tapfere erfährt den Tod nur ein
einz’gesmal. Shakespeare.
Wir warteten auf ein Taxi, Shana und ich.
Maggie musterte Shana äußerst zurückhaltend.
»Sind Sie bereit, mir Ihren
Weitere Kostenlose Bücher